Haus der Angst
können oder genau das tun, was er tat, um ihn zu retten.“
„Mom kennt sich im Rettungsschwimmen aus. Sie wird es mir eines Tages beibringen. Aber ich glaube nicht, dass man gezwungen ist, hinter jemandem herzuspringen.“
Sebastian nickte. „Manchmal lässt dir das Leben eben nicht die Wahl zwischen einer richtigen und einer falschen Möglichkeit. Manchmal hat man nur die falschen Möglichkeiten zur Auswahl. Und du tust das, was du davon für das Bessere hältst.“
Darüber musste der Junge eine Zeit lang nachdenken. Schließlich sprang er auf die Füße und griff nach seiner Angelrute. „Die Insekten sind lästig.“
Und damit war ihre Unterhaltung beendet.
Mit großen Sprüngen lief J. T. den steilen Pfad hinauf. Das ist gut, dachte Sebastian. Er war erschöpft. Wenn sich jemand mit ihm so unterhalten hätte, als er zwölf war, wie er es gerade mit J. T. getan hatte, dann hätte er wohl auch kaum verstanden, worüber zum Teufel da eigentlich geredet wurde. J. T. schien es ganz genauso zu gehen.
Weder er noch J. T. erzählten etwas von ihrem Gespräch, als Lucy und Madison zurückkamen. „Wenn du vor der Wahl stehst, ein Eichhörnchen zu überfahren oder den Wagen in den Straßengraben zu setzen, dann entscheide dich gegen das Eichhörnchen“, sagte Lucy gerade.
„Das könnte ich nicht“, sagte Madison.
J. T. beugte sich zu Sebastian und flüsterte: „Das sind zwei falsche Möglichkeiten, nicht wahr?“
„Aber es ist schlimmer, ein Eichhörnchen zu überfahren, als mit Rob und Georgie auf Kanutour zu gehen, meinst du nicht auch?“
J. T. grinste, und Sebastian ging in sein Zimmer. Lucys Zimmer, wies er sich zurecht. Er untersuchte das Bett, die Möbel und Teppich nach irgendetwas Ungewöhnlichem – tote Fledermäuse, Löchern in den Wänden, Spuren von Schüssen. Er ließ sich auf die Knie nieder und schaute unter dem Bett nach. Nichts.
Er schleuderte die Schuhe von den Füßen und sank auf die weiche Steppdecke.
Lucy klopfte an die Tür. „Ich muss ein paar von meinen Sachen holen.“
„Fühl dich wie zu Hause.“
Sie trat ein und ging zur Kommode, öffnete einige Schubladen. Unauffällig zog sie ein Nachthemd heraus – diesmal keines aus schwarzer Seide –, Unterwäsche, Socken und alles, was sie für den nächsten Tag brauchte. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Seine Blicke folgten den Linien ihrer Hüften, den Formen ihrer Beine und dem Schwung ihres Haars, das ihr nachlässig über die Schultern fiel. Ohne ihn anzuschauen, sagte sie: „Hoffentlich war der Tag heute für dich nicht so schlimm.“
„Ich habe schon schlimmere erlebt. Aber du könntest dir ein paar Pferde zulegen.“
Sie wandte sich um. „Ich werde kaum mit zwei Kindern fertig, einem Geschäft und diesem Haus. Warum sollte ich mir da noch Pferde anschaffen?“
„Um mir eins auszuleihen. Ich reite lieber, als Kürbisse zu pflücken.“ Er verschwieg ihr allerdings, dass ihm das Pflücken Spaß gemacht hatte. Er konnte es sich zwar nicht erklären, aber er wollte es auch gar nicht.
„In deinem Zustand kannst du doch nicht reiten.“
„Unsinn.“ Er hatte sich auf ihrem Bett ausgestreckt und schaute sie an. Die Szenerie kam ihm beunruhigend intim vor. „Mir geht’s ausgezeichnet. Oder jedenfalls beinahe.“
„Klar“, sagte sie zweifelnd und ging zur Tür. Mit einer Hand am Türknauf blieb sie stehen. „Vielen Dank.“
„Wofür?“
„J. T. hat mir erzählt, dass er sich entschlossen hat, den Kanutrip für Vater und Sohn mitzumachen.“
„Das war seine Entscheidung, nicht meine.“
„Aber du hast mit ihm darüber gesprochen.“
Er stieß einen Seufzer aus. „Vielleicht hätte ich nur mit ihm angeln sollen. Kinder sind heutzutage so anstrengend. Das muss an diesen pädagogischen Therapiemaßnahmen liegen.“
„Ganz bestimmt. Trotzdem vielen Dank.“
„Lucy.“ Sein Blick ruhte auf ihr. Er spürte, dass sich ihre Stimmung geändert hatte. „Lass dich vom heutigen Tag nicht täuschen. Ich habe ein oder zwei Tage gebraucht, um mich von meinem Sturz zu erholen. Ich habe mich mit J. T. unterhalten, Kürbisse gepflückt und gegrillt, um die Zeit totzuschlagen.“
„Willst du mir damit sagen, dass du im Grunde kein netter Mensch bist?“
Er blieb die Antwort schuldig, und sie lächelte.
„Das habe ich doch schon gewusst“, sagte sie und ließ ihn allein.
Du Idiot, dachte Sebastian. Da hatte sie nun gestanden, hier in seinem Zimmer, hatte nette Gedanken über ihn gehabt, und er hatte
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