Haus der Angst
Hintertreppe saß. Sie setzte sich dicht neben ihn, ohne ihn zu berühren, und nippte an ihrem Kaffee. Nachdem sie beide lange geschwiegen hatten, sagte sie: „Ich bin nicht mehr Colins Frau. Eins der Dinge, die mir nach seinem Tod am schwersten gefallen sind, war, den Ehering abzunehmen.“
Sie sprang auf, ehe Sebastian etwas sagen konnte, und lief in die Küche. J. T. war aus seinem Zimmer gekommen. Sie brieten Pfannkuchen und Würstchen und machten Ahornsirup aus Vermont warm. Die Küche füllte sich mit Appetit anregenden Düften. Lucy erlaubte Madison, zum Frühstück herunterzukommen, aber sie lehnte ab.
Das
ist mein Leben, dachte Lucy. Es hatte nichts gemein mit dem Leben eines ausgebrannten Menschen wie Sebastian Redwing, der nichts mehr mit Gewalt zu tun haben wollte – nicht weil er ein Pazifist und von Natur aus ein sanfter Mann gewesen wäre, sondern weil er es gerade nicht war. Er hatte Menschen getötet. Man hatte versucht, ihn umzubringen. Vielleicht lag der letzte Mordversuch ja nur zwei Tage zurück.
Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah auf ihre Hände. Sie trug keinen Ring mehr. Sie und Colin waren jung und arm gewesen, und für ihre Eheringe hatten sie nicht viel Geld ausgegeben. Aber das war ihnen auch nicht wichtig gewesen, denn sie hatten so fest an ihre Zukunft geglaubt.
Daisy Wheaton hatte ihren Ehering bis zu ihrem Tod getragen. Rob hatte es ihr unaufgefordert erzählt. Irgendwann hätte sie es ohnehin erfahren.
Ich bin nicht mehr Colins Frau.
Plötzlich hatte Lucy ein beklemmendes, schmerzhaftes Gefühl in der Brust, und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Sie hatte den Satz nicht nur so dahergesagt, sondern ihn ernst gemeint. Sie hatte Sebastian geküsst. Sie
begehrte
ihn. Es spielte keine Rolle, dass er nicht der richtige Mann für sie war. Irgendwie gelang es ihm, ihren Körper zum Vibrieren zu bringen, so dass sie nur noch daran denken konnte, wie es wäre, mit ihm zu schlafen. Es war verrückt.
Aber vielleicht ist es auch notwendig, dachte sie.
Sie wollte nicht, dass man von ihr als „Witwe Swift“ sprach. So erfüllt Daisys Leben auch gewesen sein mochte – es war nicht
ihr
Leben.
Lucy goss frischen Kaffee in ihren Becher und nahm ihn mit in die Scheune. Sebastian saß nicht mehr auf der Hintertreppe. Sie wusste nicht, wo er war. Auch gut, dachte sie und begann mit ihrer Arbeit.
Barbara joggte über die Hauptstraße, vorbei an Lucys Haus. Ihren Wagen hatte sie am Ende des Waldweges abgestellt, weil sie nicht den steilen Hügel hinauflaufen wollte. An diesem Sonntagmorgen war keine Menschenseele unterwegs. Dennoch glaubte sie, Sebastians Blicke auf sich zu spüren, während sie den Weg entlanglief. Sie litt nicht an Verfolgungswahn. Er
war
da. Vermutlich fragte er sich, wer sie war. Vielleicht hatte Madison es ihm schon gesagt. Barbara wusste selbst nicht, warum sie es riskierte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Warum war sie nicht oben auf dem Hügel geblieben? Warum war sie joggen gegangen?
Aber im Grunde ihres Herzens kannte sie die Antwort, und sie verlangsamte ihr Tempo nicht. Sie hoffte darauf, von solchen Fragen nicht länger gequält zu werden. Sie brannte darauf, endlich etwas tun zu können. Das Denken fiel ihr immer schwerer und sogar das Atmen. Sie wollte endlich die Erleichterung spüren, die in dem Moment eintreten würde, wenn sie aktiv werden konnte.
Nein.
Ein Schmerz schoss ihr durchs Schienbein, weil sie zu fest aufgetreten war. Sie lief langsamer. Sie war eine ausdauernde Läuferin, fit und diszipliniert.
Ob Sebastian Redwing sie verdächtigte, ihn in den Wasserfall gestoßen zu haben? Der Erdrutsch war noch wirkungsvoller gewesen, als sie vermutet hatte. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Entsetzen und Faszination, während sie beobachtete, wie er kopfüber über den Felsvorsprung gestürzt war. Meine Güte! Wenn sie den Mann nun umgebracht hätte?
Es wäre Lucys Schuld gewesen.
Lucys Schuld, Lucys Schuld.
Sie war diejenige, die Sebastian Redwing nach Vermont gelockt hatte.
Barbara joggte um ein altes Schulgebäude herum, das nur ein einziges Klassenzimmer hatte. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, als sie zurücklief. Ihr Magen schmerzte. Sie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Sie wusste, dass es die Anspannung war. Und Hass. Einen solch unbändigen Hass hatte sie noch nie zuvor empfunden. Sie verstand ihre Gefühle nicht. Lucy hatte ihr doch nie etwas getan.
Aber natürlich hatte sie das – wenn auch nur
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