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Haus der bösen Lust (German Edition)

Haus der bösen Lust (German Edition)

Titel: Haus der bösen Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Lee
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Lager hereingaloppiert. Ebenso regelmäßig rollten große Gefangenenwagen vom nahe gelegenen Depot herein – Wagen so voll mit Geprügelten und Verhungernden, dass sie aus allen Nähten zu platzen schienen. Ein Soldat stach einem kleinen Jungen mit seinem Bajonett ein Auge aus, bevor er ihn in die Kohlenglut schleuderte. Ein Mädchen, höchstens vierzehn Jahre alt, aber hochschwanger, wurde hinterhergeworfen.
    Das waren die Visionen, die die Dunkelheit hinter Poltrocks geschlossenen Augen erfüllten. Er hörte endlose Schreie und roch den Gestank von verbrannten Menschen.
    Als er die Lider öffnete, stieg ihm kurz ein anderer Geruch in die Nase: der von altem Urin.
    Krank.
    Krank. So fühlte sich Poltrock seit dem Tag, als er bei Gast angeheuert hatte.
    »Wir werden einhundert Streckenmeilen pro Jahr verlegen«, hatte Gast an jenem Tag zu ihm gesagt.
    Nicht mit nur einhundert Arbeitern, unmöglich, hatte Poltrock bei sich gedacht, jedoch nicht auf diese Stimme gehört.
    Gast hatte ihm dies im Arbeitszimmer des Herrenhauses mitgeteilt, in dem der Mann mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Es war ein wunderschönes Haus mitten in der Stadt, umgeben von Bäumen und voller Blumen.
    Warum also roch Poltrock ständig Pisse?
    Das Weiß in Gasts Augen wirkte gelblich, und es schien Poltrock, dasselbe auch bei anderen Männern bemerkt zu haben, die von Gast eingestellt worden waren.
    Das bilde ich mir bloß ein. Ich bin nicht ganz auf der Höhe, das ist alles. Gestern Nacht habe ich nach dem langen Ritt einfach zu viel getrunken ...
    Gast selbst sah aus wie das, was er war: ein stinkreicher Plantagenbesitzer aus dem Süden. Frack, Leinenhemd, Fliege und spitze Lederschuhe, die wie Öl glänzten. Er war groß und schlank, und die Linien in seinem Gesicht legten nahe, dass er über fünfzig sein musste. Die gestutzten Koteletten passten nicht zu den scharf geschnittenen Zügen und der äußerst ernsten Miene. »Ich habe bereits fünfzig Mann angeworben, die meisten davon die besten Bahnarbeiter im Staat«, beteuerte Gast. An der Stelle hatte er sich umgedreht und aus dem Erkerfenster geblickt. »Aber ich brauche noch einen Einsatzleiter. Sie.«
    Poltrock schüttelte die verwirrenden Gedanken ab. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Mr. Gast«, sagte er in unverkennbar südlichem Dialekt. »Aber warum ich?«
    »Weil Sie die großen Bahnstrecken in Ohio und Pennsylvania gebaut haben. Ich brauche einen Mann wie Sie, der meine Bauarbeiten leitet.«
    Poltrock fühlte sich benommen. Unablässig betrachtete er die pompöse Einrichtung und die prächtigen Gardinen, die mit blühenden Blumen gefüllten Kristallvasen, doch dann kam ihm ein äußerst merkwürdiger Gedanke: All das verschleiert etwas ... Tatsächlich sah das Haus innen wie außen wunderschön aus, fühlte sich jedoch ... hässlich an. Verkommen. Wie ein kranker Mensch in feinen Kleidern.
    Einen Moment lang – eigentlich nur den Bruchteil eines Moments – roch er abermals Urin. Aber sowie der Augenblick verstrich, verschwand auch der eindringliche Gestank.
    Ein schwarzes Hausmädchen brachte ein Tablett voller Tassen mit Minztee herein. Sie sprach kein Wort, stellte das Service nur auf dem Schreibtisch ab, schaute einmal kurz zu Poltrock und ging wieder.
    Bei dem Blick bemerkte Poltrock Augen, aus denen Angst sprach. Erneut schloss er die Lider, als ihn ein Anflug von Übelkeit überkam. Er konnte das Bild nicht abschütteln, das sich ihm aufdrängte: zwei kräftige weiße Hände um den Hals des Hausmädchens, und sie drückten zu, bis das dunkle Gesicht noch dunkler anlief, bis Adern dick wie Regenwürmer anschwollen und man das Knacken der Halswirbel hören konnte. Als die Hände losließen, ergoss sich ein Schwall Samenflüssigkeit aus dem offenen Mund der toten Frau.
    Dann veränderte sich der Blickwinkel und offenbarte, wem die weißen Hände gehörten: Poltrock.
    Gott steh mir bei, dachte er. Woher kommt diese abscheuliche Vision?
    Poltrock hatte sich noch nie in seinem Leben etwas derart Schlimmes ausgemalt. Er war ein gottesfürchtiger Christ. Wieso hatte sich nun eine solche Vorstellung in seinen Kopf gestohlen?
    Gast mit seinen gelblichen Augen drehte sich zu ihm um. Der Mann musste einen Leberschaden haben. »Arbeiten Sie für mich«, sagte er und reichte Poltrock einen Scheck.
    Es handelte sich um ein fein gedrucktes Dokument auf grauem Papier. Zahlbar an: Mr. N. P. Poltrock , Mitarbeiter der East Tennessee & Georgia Railroad Company, fünfzig

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