Haus der Erinnerungen
finsterste Afrika gezogen waren und dort eine unsterbliche Königin entdeckten, vor langer Zeit in der Highschool gelesen. An einer Stelle, die mir noch im Gedächtnis war, hielt ich inne und las. »Schwach und bedrückt wird der Sterbliche angesichts des Staubs, der ihn an seinem Ende erwartet.«
Wie wahr, dachte ich. Wie sehr hatte mich der Anblick meines sterbenden Großvaters bedrückt, da er mir bewußt gemacht hatte, daß auch mich eines Tages dieses Ende erwartete.
Als ich das Buch zurückstellte, überkam mich plötzlich ein Gefühl, als sträubten sich mir buchstäblich die Haare im Nacken. Es war ein unheimliches Gefühl, das langsam vom Nacken zum Kopf hinaufkroch. Ich stand ganz still. Ich hatte den Eindruck, daß die Luft um mich herum sich verändert hatte. Und daß es im Zimmer dunkler geworden war.
Ich hob den Kopf und sah mich um. Das Wohnzimmer sah aus wie immer. Und doch -
es war merkwürdig, irgend etwas war tatsächlich anders. Ich hätte nicht sagen können, was es war, aber mir fiel auf, daß es unheimlich still geworden war. Langsam drehte ich den Kopf zum Fenster und fuhr zusammen.
Ein Junge stand draußen, nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Gesicht und Hände an die Scheiben gedrückt, spähte er zu mir herein. Eine Sekunde lang starrte ich ihn erstaunt an, wobei mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß er etwas Vertrautes an sich hatte, dann rief ich laut: »Großmutter!« Der Junge blieb am Fenster stehen, den Blick mit einem Ausdruck unverhohlener Neugier auf mich gerichtet. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Augen. Seine Miene wirkte trotzig durch die kleine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen. »Großmutter!«
Ich zwang mich, von der Vitrine weg zur Küche zu gehen. »Was ist denn?« rief Großmutter zurück.
»Da draußen ist ein -« Ich drehte den Kopf zum Fenster. Der Junge war verschwunden. »Was denn, Kind?«
Sich die mehlweißen Hände an der Schürze wischend, kam sie zur Tür. Aus der Küche konnte ich das Zischen des Fetts in der Pfanne hören.
»Eben hat ein Junge durch das Fenster geschaut.«
»Was? Diese frechen Bengel!« Sie packte ihren Stock, machte unsicher kehrt und humpelte in die Küche zurück. Ich folgte ihr am kleinen Tisch vorbei, wo alles voller Mehl war und der Teig halb ausgerollt unter dem Nudelholz lag, zur Hintertür. Die ganze Zeit schimpfte Großmutter halblaut vor sich hin. Sie öffnete die Tür, und die arktische Kälte schlug uns entgegen. Vorsichtig stieg sie auf das holprige Backsteinpflaster hinunter. »Diese Früchtchen! Machen sich einen Spaß daraus, alte Leute zu ärgern. Drum haben wir nie eine Türglocke einbauen lassen. Da klingeln sie nur und laufen dann davon. Also, wo ist der Bursche?« Ich sah mich in dem kleinen Hinterhof um und wußte, daß wir vergeblich suchen würden. »Er muß durch das Tor hinausgelaufen sein«, sagte ich kleinlaut.
»Was? Nie im Leben. Das Tor ist schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. Schau nur selbst nach, es rührt sich überhaupt nicht.«
Fröstelnd inspizierte ich Schloß und Türangeln. Alles für immer zugerostet. Dann musterte ich die Mauer, die schmalen Erdstreifen mit den dürren Rosenbüschen darunter, um zu sehen, ob er Fußabdrücke hinterlassen hatte. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und spähte in Mrs. Clarks kleinen Garten und sah die endlose Kette von Mauern und Gärten und schmutzigen alten Häusern.
»Was ist da hinten, Großmutter?«
»Eine Gasse, die kein Mensch benützt. Und auf der anderen Seite das große Feld.
Newfield Heath, das reicht bis zum Kanal runter. Der Bengel ist längst über alle Berge.«
»Ja...«Ich rieb mir die Arme. Die Rosenbüsche waren unberührt. Wenn jemand über die Mauer geklettert wäre, hätte er jedoch unweigerlich in ihnen landen müssen. Ich fröstelte.
»Komm wieder rein, Kind. Vergiß die Geschichte. Es war nur ein Dummejungenstreich.«
Ich folgte ihr wieder ins Haus und sperrte die Hintertür ab. Immer noch fröstelnd setzte ich mich ins Wohnzimmer. Weder die Wärme der Gasheizung noch der heiße Tee konnten die Erinnerung an das unheimliche Gefühl vertreiben, das mich befallen hatte, ehe ich den Jungen am Fenster gesehen hatte. Und ebenso wenig den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Unser Abendessen bestand aus Butterbroten und heißer Milch. Danach setzten wir uns wieder an den Kamin. Ich kuschelte mich tief in den Sessel und ließ mich von der Wärme des Zimmers einlullen. Ich war
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