Haus der Erinnerungen
später trat ich etwas frischer und dank Großmutters Tabletten fast frei von Kopfschmerzen aus dem kalten Badezimmer und ging ins vordere Schlafzimmer. Mein Koffer lag aufgeklappt auf dem Bett, umgeben von Toilettenartikeln, Unterwäsche und frischen T-Shirts. Alles war genauso, wie ich es am Vortag zurückgelassen hatte. Das Zimmer war frühmorgendlich kalt, doch im gedämpften Tageslicht, das durch die Vorhänge fiel, hatte es nichts Unheimliches mehr. Es war nicht mehr als ein altes Schlafzimmer. Das Bettgestell aus Messing war angelaufen und hatte dringend eine Politur nötig. Eine feine Staubschicht bedeckte den Sims über dem Kamin. Die Wände waren feucht, an einigen Stellen blätterte der Anstrich. Der Kleiderschrank war alt und abgenützt. Der Kleiderschrank.
Ich starrte das schwere Möbelstück aus dunklem Eichenholz so intensiv an, als könnte ich in ihm den verlorenen Traum wiederfinden. Aber nichts geschah. Mir fiel lediglich auf, daß eine der Türen einen Spalt offenstand.
Ich dachte an Harriet, die schluchzend auf dem Bett gelegen und gedroht hatte, sich in den Schrank einzusperren und Hungers zu sterben. Und ich erinnerte mich meiner ersten Nacht hier oben, als ich, nach jenem schrecklich beklemmenden Alptraum, zum Spiegel über den Kamin gesehen und aus irgendeinem Grund von dem Bild, das er wiedergab, gefesselt gewesen war: dem Schrank mit der offenen Tür.
Im kühlen Morgenlicht, das den Schatten keinen Raum ließ, faßte ich Mut und näherte mich dem Kleiderschrank mit einer Mischung aus Neugier und Scheu. Ich griff zur Tür und zog sie langsam auf. Drinnen hingen, wie ich sie aufgehängt hatte, die Blue Jeans und das T-Shirt, die ich auf der Reise getragen hatte. Sonst war nichts zu sehen. Als ich die zweite Tür öffnete, entdeckte ich nur gähnende Leere und ein paar alte Kleiderbügel.
Ein leerer alter Kleiderschrank, sonst nichts.
Ich räumte meine Sachen vom Bett und ging wieder zu meiner Großmutter hinunter.
»So, so«, sagte meine Großmutter, als wir fertig gefrühstückt hatten, »du möchtest einen Spaziergang machen?«
»Ja. Ich möchte ein bißchen raus an die frische Luft.« Sie blickte zum Fenster hinaus in den klaren blauen Himmel. »Es scheint ein schöner Tag zu sein, aber hier weiß man nie.
Der November hat's in sich, Kind. Es kann jederzeit umschlagen und sich zuziehen.«
»Ich zieh mich warm an, Großmutter. Aber ich brauch ein bißchen frische Luft. Und Onkel Ed und Tante Elsie kommen ja noch nicht so bald.«
Mein Vorhaben schien ihr nicht recht zu passen, aber sie sagte nichts mehr. Ich zog zwei von ihren Wolljacken über mein T-Shirt, zog mir eine Wollmütze über die Ohren und schlang mir einen dicken Schal um den Hals. »Wohin willst du denn?« fragte sie.
Ich sah durch das Wohnzimmerfenster zu dem großen Feld hinaus, das sich jenseits der Hintergasse leicht gewellt in die Ferne dehnte. »Wohin kommt man da?«
»Das ist Newfeld Heath. Führt an einem Kanal entlang. Da kannst du nicht verlorengehen, wenn du da lang gehst. Geh einfach bis zum Ende der Straße und bieg dann an der Kent Avenue rechts ab. Dann bist du in fünf Minuten draußen auf dem Feld. Aber bleib nicht zu lang aus.«
Sie begleitete mich hinaus, erinnerte mich noch einmal an die Zeit und schloß dann die Tür hinter mir.
Während ich noch auf der kurzen Treppe vor dem Haus stand und die Enden des Schals unter den Kragen meiner Jacke schob, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Die Sonne lockte, und der kühle Wind in meinem Gesicht war erfrischend, und dennoch zog es mich ins Haus zurück. Ich stieg die erste Stufe hinunter und blieb stehen. Ein Widerstreben erfaßte mich, ein plötzlicher Widerwille, das Haus zu verlassen.
Ich verstand mich selbst nicht mehr. Wieso dieses Zaudern? Vor fünf Minuten noch hatte ich nicht schnell genug aus dem Haus kommen können, und jetzt wäre ich am liebsten umgekehrt. Ich fühlte mich wie von sanfter Gewalt ins Haus zurückgedrängt. Es war beinahe so...
Ich schüttelte den Kopf und stieg entschlossen die Stufen hinunter.
... beinahe so, als wolle das Haus mich nicht gehen lassen. Hirngespinste, sagte ich mir ärgerlich und marschierte zielstrebig den Gartenweg hinunter zum Tor, öffnete es und trat auf die Straße hinaus. Absurd! Das Haus mich festhalten wollen! Ich lachte etwas künstlich, um mir selbst zu zeigen, wie lächerlich ich mich benahm. Die Nase in den beißenden Wind gerichtet und ohne einen Blick zurückzuwerfen, machte ich mich
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