Haus der Erinnerungen
und versuchte, mich zu lösen ? Würde es mich ziehen lassen ?
Aber wie wollte es mich denn überhaupt aufhalten ? Unsinnige Spintisierereien, schalt ich mich, während ich mich in der Kälte des Badezimmers trockenfrottierte. Wie albern, mich als Gefangene dieses Hauses zu sehen. Selbstverständlich konnte ich gehen. Jederzeit. Wann immer ich wollte. Es wäre nur lieblos gewesen, Großmutter nach so kurzer Zeit und ausgerechnet jetzt wieder allein zu lassen. Und ich konnte nicht nach gerade vier Tagen schon wieder nach Los Angeles zurückkehren. Es gehörte sich einfach, daß ich noch eine Weile blieb, Großmutter Gesellschaft leistete, meinen Großvater besuchte und die alten Ver-wandtschaftsbande neu knüpfte. Ich würde gehen, wenn ich dazu bereit war.
Das Essen war gut, aber ich hatte keinen Appetit. Dennoch zwang ich mich, Großmutter zuliebe wenigstens ein wenig zu essen. Sie musterte mich immer wieder mit besorgtem Blick. »Ist dein Haar schon trocken, Kind ?«
Ich schob einen Finger unter das Frottiertuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte. »Scheint so, ja.«
»Setz dich doch ans Gas, bis es richtig trocken ist. Nicht daß du mir eine Erkältung bekommst. Elsie und Ed kommen heute sicher nicht. Bei solchem Nebel gehen sie nie aus dem Haus.« Ich sah wieder zum Fenster. Alles war Grau in Grau. Der kleine Garten, die Backsteinmauer, die rostige Pforte und die dürren Rosenbüsche waren verschwunden. Noch nie hatte ich so dicken Nebel erlebt. Es war, als wäre das Haus von einem Wattemeer umhüllt.
»Wann geht er denn wieder weg ?«
»Heute abend wahrscheinlich. Komm jetzt, setz dich ans Feuer.«
Mit trägen Bewegungen bürstete ich mir am Gasfeuer das Haar. Lieber hätte ich mich weiter weg gesetzt, es war mir sowieso schon zu warm im Zimmer. Aber Großmutter war um mein Wohlbefinden besorgt, und da ich gerade aus der Wanne gestiegen war, mußte ich ihr recht geben. Ich starrte in die bläulichen Gasflammen, während ich bürstete, und hing meinen Gedanken nach, die sich um die vier Menschen drehten, die ich am vergangenen Abend hier beobachtet hatte.
Als ich Großmutter in der Küche das Geschirr spülen hörte - sie wollte nichts davon wissen, daß ich ihr half -, nahm ich das Familienalbum und schlug es auf. Unglaublich, daß ich die Entstehung dieses Familienfotos miterlebt haben sollte! Ein verrückter Gedanke, daß dieses Bild, vergilbt und brüchig jetzt, seit Jahrzehnten in diesem Album steckte und ich doch erst vor wenigen Stunden seine Entstehung beobachtet hatte.
Was war die Zeit für ein seltsames Ding. Die Wirbel und Strudel des gewaltigen Flusses Zeit waren mir ein Rätsel. Ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben: »Die Zeit vergeht, meinst du? Aber nein! Die Zeit bleibt, und wir vergehen.« War das die Erklärung ?
Daß nicht die Zeit in Bewegung ist, sondern vielmehr wir durch sie hindurchfliegen, während sie stillsteht ?
Und wenn einem von uns es gelingen sollte, nur einen Moment stillzustehen, konnte er dann zurückblicken... »Wo hast du das denn aufgestöbert ?« Ich fuhr in die Höhe. »Was ?«
Großmutter ließ sich schwerfällig in den Sessel sinken und stützte sich dabei bis zur letzten Sekunde auf ihren Stock. Existierte sie jetzt, in diesem Moment, vielleicht als junge Frau in einem anderen Zeitabschnitt? Oder konnten wir nur zu den Toten zurückblicken ?
War es möglich, das Fenster zu unserer eigenen Vergangenheit zu finden und uns zu betrachten, wie wir gewesen waren, als wir jung waren ? »Ich habe es im Salon gefunden.«
»Im Salon?«
Und wenn ich zusehen konnte, wie sich die Leben von Harriet, John und Victor entwickelten, würde ich dann auch die Geburt meines eigenen Großvaters miterleben ?
»Du glaubst hoffentlich nicht, daß ich in deinem Haus herumschnüffeln wollte, Großmutter, aber du hast neulich Abend von dem Album gesprochen, und ich war so neugierig. Ich habe mir gedacht, daß es vielleicht im Salon liegt -«
»Es ist das Familienalbum der Townsends. Ich habe es mir seit Ewigkeiten nicht mehr angesehen. Seit der Geburt meiner Kinder nicht mehr. Zeig mal.«
Ich reichte ihr das Buch, und meine Gedanken wanderten weiter. Würde ich wahrhaftig meinen Großvater als kleines Kind sehen, oder gestatteten diese Blicke in die Vergangenheit nur die zu sehen, die schon tot waren ?
Ich beobachtete Großmutters alte Hände, die Seite um Seite umblätterten. Brüchige Ränder und Ecken bröckelten unter ihren Fingern ab. Bei der Gruppenaufnahme
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