Haus der Erinnerungen
klar, daß dies gewissermaßen die Brücke zwischen den beiden Zeitaltern war. Die Uhr war eine Art Schaltwerk, das den Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzog. Aber die Zeit der Gegenwart schien stillzustehen. Sie bewegte sich träge fort, während die Vergangenheit vor meinen Augen ihren normalen Gang nahm. Oder war ich es, die stillstand und im Still-stehen den Verlauf der Ereignisse von gestern wahrnahm ? Es spielte keine Rolle. Es war ein Rätsel, das nicht zu lösen war. Was auch immer in diesem Haus vorging, was auch immer das für ein Plan war, in den ich eingebunden worden war, er mußte seinen Lauf nehmen, ohne Rücksicht auf das Warum, das Wie und das Wozu.
8
William und May trotzten dem Nebel und kamen auf eine Stippvisite bei uns vorbei.
Großmutter, die im Lauf des Spätnachmittags etwas traurig gewesen war, weil keiner Großvater besuchen würde, wurde sogleich wieder heiterer. William und May wollten sich vom schlechten Wetter nicht von ihrem gewohnten Abendbesuch im Krankenhaus abhalten lassen. »Möchtest du mitkommen, Andrea?«
Ich nickte nachdrücklich. Ich mußte eine Weile hinaus aus diesem Haus. Ich brauchte frische Luft und Tapetenwechsel und die Gesellschaft anderer Menschen. Zum erstenmal war ich froh um meine Verwandten.
»Ich weiß nicht, Andrea«, sagte Großmutter zweifelnd, während sie mir die Hand auf die Stirn legte. »Ich glaube, du brütest eine Erkältung aus.«
»Ach wo! Mir geht's gut.«
»Sie hat den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt, und gestern auch schon. Ich glaube, das ist die Feuchtigkeit.«
Nun fühlte sich auch May genötigt, mir die Hand auf die Stirn zu legen. »Fieber scheint sie keines zu haben. Möchtest du mitkommen, Andrea?«
»Ja, sehr gern.«
»Also gut«, meinte Großmutter seufzend. »Aber zieh dich richtig an. Im Radio haben sie gesagt, daß ein Sturm aufzieht.«
»Ich geh schon voraus und wärm den Wagen ein bißchen vor«, sagte William, während er wieder in seine dicke Jacke schlüpfte und den Wollschal umlegte. »Komm erst raus, wenn du fertig angezogen bist. Ich mach dir dann gleich die Tür auf. Da bekommst du von der Kälte gar nichts mit.«
Aber ich hatte mich inzwischen so sehr an die Kälte gewöhnt, daß ich all die warmen Verpackungen gar nicht brauchte, die Großmutter mir aufdrängte. Im Gegenteil, das Wohnzimmer war mir schon den ganzen Nachmittag muffig und überheizt erschienen, und mehrmals wäre ich am liebsten aufgesprungen und hätte die Tür aufgerissen. Dennoch packte ich mich unter der mütterlichen Fürsorge Großmutters so warm ein, wie sie es wünschte und als ich schließlich in Jacke, Mantel, Wollmütze und Fäustlingen dastand, hatte ich nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich hinauszukommen. Aber an der Haustür wurde ich aufgehalten. In dem Moment, als ich den Fuß über die Schwelle setzen wollte, überfiel mich ein so starkes Schwindelgefühl, daß ich mich am Türpfosten festhalten mußte, um nicht zu stürzen. »Was ist denn, Kind?« hörte ich Mays Stimme von weither. Die nebelwallende Straße schwankte vor meinen Augen, bewegte sich in wilden Wellenbewegungen auf mich zu und wich wieder zurück. In weiter Ferne stand ein winziger William neben einem winzigen Auto. Es war, als sähe ich ihn durch eine konkave Linse. May war an meiner Seite, ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten, aber ich hörte nichts. Der Boden unter meinen Füßen bewegte sich wie bei einem Erdbeben. Ich umklammerte die Tür, um Halt zu finden, während der Boden unter mir absackte und mir der Magen bis zum Hals hinaufsprang wie auf einer Achterbahn.
Als ich mit dem Kopf auf den harten Holzboden aufschlug, hörte der Schwindel schlagartig auf, und ich starrte benommen zur Decke hinauf.
»Mein Gott, mein Gott!« hörte ich Großmutter voller Entsetzen rufen. »Sie ist ohnmächtig geworden.«
Drei erschrockene Gesichter neigten sich über mich, dann wurde ich vom Boden aufgehoben. William nahm mich in seine kräftigen Arme und zog mich hoch. Ich hing wie eine Lumpenpuppe an ihm. Großmutter und May gingen händeringend und o Gott, o Gott rufend neben uns her, während William mich durch den Flur ins Wohnzimmer schleppte.
Dort setzte er mich in einen Sessel und schälte mich schnell und etwas grob aus den dicken Kleidern.
Als ich wieder ganz bei Besinnung war, sah ich, daß ich vor dem Gasofen saß, der voll aufgedreht war. Um meine Beine lag eine dicke Decke und Großmutter hielt mir eine Tasse Tee hin. »Es ist schon
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