Haus der Erinnerungen
gegen meine Wünsche gehandelt hast?« Die Stimme des Vaters war heiser und gepreßt.
Doch Victor blieb hart. Während er seinen Vater ruhig und unverwandt ansah, fühlte ich mich plötzlich von einer Flut heftiger und starker Gefühle überschwemmt. Diese Leidenschaft, die sowohl von Victor als auch von seinem Vater ausging, erfüllte den ganzen Raum und senkte sich wie eine schwere Wolke über mich. Wellen von Liebe und Verehrung, von Enttäuschung und Zurückweisung überfluteten mich. Diese beiden stolzen Männer, die beide an den Qualen ihrer Liebe zum anderen litten, füllten mich mit ihrem schmerzlichen Konflikt. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihnen gesagt, daß ihr Eigensinn kindisch war, daß ihre gegenseitige Zuneigung das einzige war, was zählte, daß sie diesen Schmerz nicht ertragen müßten, wenn nur einer von ihnen einen Moment lang seinen Stolz vergessen könnte. Aber ich konnte mich nicht einmischen, denn das, was hier geschah, war schon geschehen. Ich war Zeugin eines Ereignisses, das nahezu hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte. Ich konnte es nicht ändern. Ich durfte beobachten, aber ich durfte nicht eingreifen.
»Es tut mir leid, daß du mich nicht verstehst, Vater«, sagte Victor, und seine Stimme verriet, daß er nicht mehr auf Verständnis hoffte. »Ich möchte ans Königliche Krankenhaus, um dort zu unterrichten und zu forschen, wie Mr. Lister das tat, denn ich bin der Überzeugung, daß ich an dieser Stelle gebraucht werde und daß das meine Berufung ist.«
»Gebraucht wirst du hier!« rief der ältere Townsend. »Hier, bei deiner Familie, in deinem Zuhause. Aber du willst nach Schottland und fremde Leben retten, wenn deine eigenen Leute dich brauchen.«
»Es gibt Ärzte genug in Warrington, Vater, und wenn ich mein Diplom bekomme, werde ich direkt -«
»Meinetwegen kannst du direkt zum Teufel gehen! Jemand, der sich keinen Deut um das Wohl seiner eigenen Familie schert, kann nicht mein Sohn sein! John ist geblieben und ist uns ein Segen des Herrn. Er allein gehorchte den Wünschen seines Vaters.«
»Ich muß mein eigenes Leben leben, Vater«, erwiderte Victor mit großer Selbstbeherrschung.
»Ja, und um das zu tun, mußt du deiner Familie den Rücken kehren. Ich war von Anfang an dagegen, daß du so ein Quacksalber wirst. Aber nun, wo du es doch durchgesetzt hast, solltest du wenigstens nach Hause kommen und bei denen bleiben, die dich lieben. Aber ich werde dich nicht bitten. O nein! Ich werde dich nicht bitten, und ich werde mich auch nicht weiter mit dir herumstreiten. Du wirst dich eines Tages dafür verantworten müssen, was du getan hast -Leichen aufschneiden und deine Nase in Dinge stecken -«
»Dann leb wohl, Vater.« Victor bot seinem Vater die Hand. Sein Gesicht war bleich und wirkte im flackernden Feuerschein sehr hart.
Der ältere Townsend schien einen Moment unschlüssig, hin und her gerissen zwischen Liebe und Stolz, dann machte er ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer.
Victor stand da wie versteinert, den Arm noch ausgestreckt, um dem Vater die Hand zu reichen, das Gesicht sehr bleich. Als er schließlich verschwand, und das lodernde Feuer wieder dem Gasgerät gewichen war, schlug ich überwältigt die Hände vor das Gesicht.
»Ja ?« sagte Großmutter plötzlich und fuhr aus dem Schlaf. »Ja, was ist?«
Ich wandte mich von ihr ab und wischte mir die Augen. »Oh, ich muß eingeschlafen sein. Lieber Gott, wie spät es schon ist! Ich kann doch nicht hier rumsitzen und dösen, da krieg ich ja die ganze Nacht kein Auge zu. Ach du lieber Schreck, ich hab mein Strickzeug fallenlassen, und die ganze Wolle hat sich verheddert. «
Ich drängte die Tränen zurück und tröstete mich mit dem Gedanken, daß Victors Leiden an der Zurückweisung des Vaters, den er so geliebt hatte, längst vorbei war. Mit einem etwas mühsamen Lächeln wandte ich mich meiner Großmutter zu. »Wie ist das Buch ?«
fragte sie.
»Gut.« Meine Stimme war unsicher. »Ich glaube, ich bin auch eingenickt.«
Ich sah auf die Uhr. Nur eine Minute war vergangen über der Konfrontation Victors mit seinem Vater. Ich lauschte dem vertrauten Ticken, und die Uhr schien mir zu flüstern
»vergangen, vergangen, vergangen«. Ich erkannte, daß während meiner Begegnungen mit der Vergangenheit die Zeit der Gegenwart keine Gültigkeit hatte. Da ich jetzt wußte, daß das Aussetzen der Uhr zugleich das Signal zum Eintritt in die Vergangenheit war, wurde mir
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