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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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hatte ich überhaupt kein Verlangen, mit ihr zu sprechen.
    Nachdem William und May gegangen waren, sperrte ich die Haustür ab und schob die Polsterrolle vor die Ritze. Dann folgte ich Großmutter ins Wohnzimmer. Die erstickende Hitze nahm mir fast den Atem. Ich sah zum Gasfeuer hinunter. Großmutter hatte es auf die niedrigste Stufe gestellt. Nur ein blasses blaues Flackern war auf den Spiralen zu sehen. Und doch betrug die Außentemperatur, wie William gesagt hatte, zwei Grad unter Null. »Wird langsam kalt hier drinnen«, sagte Großmutter und ging sich die Hände reibend zum Kamin.
    »Nein«, widersprach ich hastig. »Es ist gerade angenehm.«
    »Was ? Es ist ausgesprochen kalt, und ich habe drei Pullover übereinander an. Schau dich doch mal an in deinem dünnen Hemdchen mit den kurzen Ärmeln. Wie hast du das nur so lange oben ausgehalten?«
    Oben. Der Schrank. Die grauenvolle Angst... »Großmutter -«
    »Ja, Kind?«
    »Ich-«
    Sie sah mich an. Ihre Augen waren trübe. Buschig hingen die weißen Brauen über ihnen. Ihr Gesicht schien um vieles runzliger geworden zu sein, seit ich sie das letztemal richtig angesehen hatte. Sie schien unglaublich gealtert. »Wie geht es Großvater?« fragte ich schließlich. »Ach, nicht besonders, Kind. Ich weiß nicht genau, was ihm fehlt. Der Arzt sagt, es sind seine Gefäße. Die Arterien und Venen sind alle kaputt. Darum kann er nicht mehr gehen und ist meistens verwirrt. Sie können noch nicht sagen, ob sich das wieder bessern wird. Vielleicht kommt er nie wieder nach Hause.«
    »Ach, Großmutter, das tut mir so leid.« Und es tat mir wirklich leid. Die Einsamkeit und die Sorge um ihren Mann belasteten Großmutter sehr, das war ihr deutlich anzusehen.
    »Ja, weißt du, Kind, dein Großvater und ich sind in den zweiundsechzig Jahren unserer Ehe nie getrennt gewesen. Nicht einmal einen einzigen Tag. Und jetzt dauert die Trennung schon Wochen. Ich komme mir so verloren vor ohne ihn.« Sie zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich. »Es ist spät, Kind, und ich bin müde. Ich denke, wir sollten zu Bett gehen.«
    »Aber ja, Großmutter.«
    Nachdem sie mir einen Gute-Nacht-Kuß gegeben hatte, schloß ich die Tür hinter ihr und schaltete das Gasfeuer aus. Dann setzte ich mich in meinen Sessel und überließ mich meinen Gedanken. Einen Moment lang war ich nahe daran gewesen, meiner Großmutter alles zu sagen, ihr mein Herz auszuschütten, von meinen seltsamen Erlebnissen, meinen Ängsten und bösen Ahnungen zu erzählen. Aber im nächsten Augenblick schon hatte ich die Traurigkeit in ihren Augen gesehen, die tiefe Müdigkeit in ihrem Gesicht und hatte es nicht über mich gebracht, ihr das Herz noch schwerer zu machen.
    Aber es gab auch noch einen anderen Grund, der mich in letzter Sekunde bewogen hatte, Großmutter doch nichts zu sagen: Trotz aller Angst und allen Grauens, die ich soeben oben in meinem Schlafzimmer ausgestanden hatte, wurde mein Wunsch nach weiteren Begegnungen mit meinen toten Verwandten immer stärker. Die Begierde, ihre Geschichte zu erfahren, wuchs ebenso wie meine Neugier, das Ende zu sehen. Die Angst, den ›Zauber‹ zu brechen, wenn ich Großmutter oder sonst jemandem von meinen Erlebnissen etwas sagte, hatte mich veranlaßt zu schweigen. Ich hatte das Gefühl, in eine geheime Gesellschaft aufgenommen worden zu sein, Mitwisserin von Geheimnissen zu sein, von denen zu erfahren kein Außenseiter ein Recht hatte. Ich hatte Angst, den Lauf der Ereignisse zu stören und John, Harriet und Victor vielleicht nie wiederzusehen.
    Aber ich mußte sie wiedersehen.
    Jetzt lachte ich bei diesem Gedanken. Es ging nicht mehr nur um das Sehen, es ging um viel mehr. Sie hatten mich in ihre Gefühle und Leidenschaften hineingezogen, mich gezwungen, ihr Glück und ihren Schmerz mitzuerleben, wie den Konflikt zwischen Victor und seinem Vater. Die toten Townsends übertrugen ihre Empfindungen und Gefühle auf mich, so daß ich fühlte, was sie fühlten. Ich begann, mich mit ihnen wahrhaft verwandt zu fühlen, eine Verbindung spann sich an, wie ich sie mit keinem anderen je haben konnte.
    Etwas ganz besonderes. Etwas jenseits dieser Welt und dieses Lebens. Und es war mir schon teuer geworden. So wie mir die Townsends teuer geworden waren, ganz ohne Rücksicht darauf, was sie vielleicht in den kommenden Tagen tun würden. Und werde ich Victor immer noch mögen, dachte ich traurig, wenn ich erst seine schrecklichen Verbrechen mitangesehen habe?
    Ich wollte nicht daran denken.

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