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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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ausgesetzt, ohne etwas dagegen tun zu können. Wie glatt und ruhig mein Leben gewesen war, wie vorhersehbar und leicht zu überblicken. Und wie leer!
    Ich fing wieder an zu weinen. Ich weinte um Victor und ich weinte um mich selbst und das, was ich versäumt hatte. Ein Leben auf Sparflamme. Ungefährlich und unendlich langweilig. Welch eine Ironie, dachte ich unter Tränen, daß es Toter bedurft hatte, mich zum Leben zu erwecken. Was ist denn ein Mensch ohne Gefühle ? Was bleibt denn nach Abzug von Liebe und Haß und Eifersucht und dem ganzen Reichtum der Emotionen, die die Lebendigkeit eines Menschen ausmachen ? Eine leere Hülle. Und genau das war ich gewesen, als ich zum ersten Mal das Haus meiner Großmutter betreten hatte - eine leere Hülle. Ich hatte einzig für mich gelebt, in einer so eng abgesteckten Welt, daß für andere kaum Raum darin gewesen war. Selbst jene Freundschaften, die ich gepflegt und so hoch geschätzt hatte, hatten mir nichts abverlangt.
    Während draußen ein grauer Tag heraufdämmerte, wandten meine Gedanken sich meinem Bruder Richard zu, der, in der Kindheit mein engster Freund und Vertrauter, mir heute ein Fremder war. Ich hatte zugelassen, daß Zeit und räumliche Entfernung eine tiefe Kluft zwischen uns aufgerissen hatten. Hin und wieder ein flüchtiger Gedanke, zu Weihnachten eine Karte, einmal im Jahr vielleicht ein Brief - das war alles, was von der innigen Beziehung zwischen meinem Bruder und mir geblieben war. Wie anders waren wir als Victor und Harriet!
    Ich sah Harriet vor mir, wie sie über Victors Umzug nach London geweint, mit welchem Jubel sie seine Rückkehr begrüßt hatte, und Erinnerungen überfluteten mich plötzlich, als wäre ein Damm gebrochen. Richard und ich als Kinder: Stets hatte er mich beschützt und verteidigt, mich Neues gelehrt, mich stundenlang mit abenteuerlichen und geheimnisvollen Geschichten unterhalten. Ich lag da und ließ mich von den lange verschütteten Erinnerungen, die Wehmut und Bedauern mitbrachten, in die Welt meiner Kindheit zurücktragen.
    Der Weihnachtsmorgen, wenn wir unsere Geschenke geöffnet hatten. Richard, der Unerschrockene, der eine Spinne tötete, die sich in mein Bett verirrt hatte; der mir bei meinen Hausaufgaben half; der sein letzten Stück Schokolade mit mir teilte. Er war mein Held gewesen. Ich war so stolz auf ihn gewesen wie Harriet auf ihren Bruder Victor. Und was war davon geblieben? Wieso hatte ich diese alltäglichen kleinen Begebenheiten vergessen, an die ich mich nun plötzlich mit soviel Liebe und Wehmut erinnerte ?
    Es verlangte mich danach, mit ihm zu sprechen so wie damals, als ich im vorletzten Jahr der Highschool gewesen war und Richard zur Luftwaffe eingezogen worden war. Wir hatten den ganzen Abend in meinem Zimmer auf meinem Bett gesessen und geredet. Richard hatte mir erklärt, daß er fort müsse und ich von nun an ohne ihn zurechtkommen müsse. Er hatte damals sehr erwachsen auf mich gewirkt. Er hatte versucht, mir eine Vorstellung davon zu geben, was mich in der Zukunft erwartete, und mich vor den Stolpersteinen gewarnt. Er hatte Worte gebraucht, die mir fremd waren, Bilder gezeichnet, die ich nicht recht verstand.
    Später, als ich erwachsen geworden und Richard nach Australien gegangen war, hatte ich erkannt, daß er mir in allem die Wahrheit gesagt hatte und seine Ratschläge und Hinweise wohlüberlegt gewesen waren.
    Mir wurde klar, daß Richard mich niemals verlassen hatte, sondern immer an meiner Seite gestanden hatte, selbst in jenen Zeiten, als ich mich völlig alleingelassen gefühlt hatte.
    Seine Liebe hatte mich immer begleitet, geradeso wie die Worte, die er mir mitgegeben hatte.
    Ich jedoch hatte ihm die Schuld an meiner Einsamkeit gegeben, hatte es ihm übelgenommen, daß er fortgegangen war, und hatte mich innerlich von ihm distanziert. Ich hatte es ihm zum Vorwurf gemacht, daß er nicht bei mir geblieben war und mein Leben für mich gelebt hatte.
    Wie unfair!
    Ich ließ es mir von Großmutter nicht ausreden, mit Elsie und Ed ins Krankenhaus zu fahren. Ich spürte, daß das Haus mich nicht zurückhalten würde. Ich wollte meinen Großvater unbedingt sehen und versuchen, eine Möglichkeit zu finden, ihm mitzuteilen, was ich über seinen Vater wußte. Ich konnte meinen Großvater nicht sterben lassen, ohne ihn darüber aufzuklären, daß er seinen Vater völlig falsch gesehen hatte, sein Leben lang einer schrecklichen Lüge aufgesessen war. Er mußte wissen, daß Victor Townsend ein nobler

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