Haus der Erinnerungen
niemals nach Los Angeles zurückkehren, weil ich dann den Schatz verlieren würde, den ich hier gefunden hatte.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich lebendig. »Sie tun noch ziemlich weh, Großmutter.«
»Dann komm, Kind, ich creme sie dir ein.«
Wir gingen zu unseren Sesseln vor dem Kamin, und ich wünschte, ich könnte das Gasfeuer herunterdrehen. Aus irgendeinem Grund wurde mein Körper immer empfindlicher gegen Wärme und schien der Kälte zu bedürfen, die mich anfangs so abgeschreckt hatte. Als Großmutter am Morgen ins Zimmer gekommen war und mich angekleidet auf dem Sofa hatte liegen sehen, hatte sie ärgerlich gerufen: »Das Gas ist ja schon wieder aus! Es ist eiskalt hier.
Andrea, frierst du denn nicht?«
Ich hatte tatsächlich nicht gefroren, obwohl ich nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet gewesen und die Temperatur im Haus nicht über zehn Grad gewesen war. Später, als sie den Gasofen voll aufgedreht hatte, war ich vor Hitze fast umgekommen. Während ich jetzt vor den niedrigen Flammen saß und mit hochgeschobenen Hosenbeinen darauf wartete, von Großmutter eingesalbt zu werden, fühlte ich mich wie erstickt von der Wärme und wünschte nur, ich könnte den verflixten Heizofen ausmachen. Während Großmutter vorsichtig und behutsam die Creme auf meine roten Beine auftrug, sah ich zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Gewitter war aufgezogen. Regen prasselte an die Fenster, Blitze erhellten flüchtig die Finsternis mit geisterhaftem Licht, Donnerschläge krachten wie Böller-schüsse.
Ich genoß die Stimmung und starrte fasziniert zum Fenster hinaus. Als meine Großmutter eine Weile später erklärte, sie wolle hinaufgehen und sich hinlegen, weil ihr die Arthritis bei diesem feuchten Wetter so sehr zu schaffen mache, konnte ich kaum meine Erleichterung und freudige Erregung verbergen. Bald würde ich Victor wiedersehen.
11
Ich saß auf dem Sofa und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, als mir plötzlich bewußt wurde, daß die Uhr auf dem Kaminsims nicht mehr tickte. Es war gerade Mitternacht. Und schon begann das Zimmer um mich herum, sich zu verändern. Es ging sachte und allmählich vor sich, wie die Überblendung von einer Filmszene in eine andere, und es wurde kühler im Raum. Das bunte Blumenmuster der beiden Sessel begann sich zu verwi-schen, dann zeigte sich der warme Schimmer grünen Samts, und ich hatte die Sessel vor mir, die im Jahr 1890 genau an diesem Platz gestanden hatten - fast neu, die Bezüge kaum abgenutzt, die Polsterung noch fest und stabil.
In einem der Sessel saß Harriet. Sie schien wieder einen ihrer geheimen Briefe zu schreiben. Die Feder flog schnell über das Papier, das sie auf ihrem Schoß hielt. Wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, blickte sie immer wieder zur Uhr, hob ab und zu lauschend den Kopf, als hätte sie draußen etwas gehört, und schrieb dann hastig weiter.
Ich hätte gern gewußt, wer der Empfänger dieser Briefe war, warum Harriet sie in solcher Hast schrieb, warum sie Angst hatte, beim Schreiben ertappt zu werden. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihr über die Schulter geblickt, aber das wagte ich nicht. Ich fürchtete, eine Bewegung von mir könnte diesen zerbrechlichen Moment auslöschen. Darum blieb ich reglos auf dem Sofa sitzen und begnügte mich damit, Harriet zu betrachten. Es war still im Zimmer, nur das Kratzen der Feder auf dem Papier war zu hören und von draußen, jenseits der geschlossenen Vorhänge, das Rauschen des Regens. Im offenen Kamin verglühten die letzten Reste des abendlichen Feuers. Ein Blick auf die viktorianische Uhr auf dem Kaminsims zeigte mir, daß es auch in Harriets Zeit Mitternacht war. Es war anzunehmen, daß der Rest der Familie bereits zu Bett gegangen war. Harriets Eltern schliefen wahrscheinlich im hinteren Schlafzimmer, John und seine junge Frau hatten vermutlich das Vorderzimmer bezogen. Das hieß, daß Harriet sich mit einem Provisorium entweder in diesem Zimmer oder im Salon begnügen mußte, bis das junge Paar in sein eigenes Heim umzog. Es würde, dachte ich, gewiß nicht mehr lang dauern, bis John und Jennifer ihren eigenen Hausstand gründeten. Als mir einfiel, daß zu dieser Vermutung eigentlich kein Anlaß bestand, da John und Jennifer ja noch hier lebten, wurde mir klar, daß ich irgendwie Harriets Gedanken empfangen mußte. Vielleicht schrieb sie darüber gerade in ihrem Brief, beschwerte sich vielleicht über diesen Zustand - so
Weitere Kostenlose Bücher