Haus der Erinnerungen
fragte Jennifer: »Wo werden Sie Ihre Praxis eröffnen, Mr. Townsend?«
Victor trat von der Tür weg und ging durch das Zimmer, um sich /u den drei anderen zu gesellen. »Warum nennen Sie mich immer i loch beim Nachnamen, Jennifer ? Wir sind doch Freunde. Da können wir uns ruhig bei den Vornamen nennen.«
Wie recht du hast, Victor«, stimmte John zu und hob wiederum sein Glas zum Toast.
»Schließlich gehört Jennifer ja jetzt zur Familie, da sie deine Schwägerin ist.«
Zum erstenmal seit seinem Eintreten sah Victor seinen Bruder an. »Pardon?«
»Aber du mußt doch meinen Brief bekommen haben! Soll das heißen, daß du es nicht weißt?« John legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Und ich habe mich schon gewundert, warum du mir am Bahnhof nicht gratuliert hast. Jennifer und ich haben vor zwei Monaten geheiratet.«
Es war, als steckte ich in Victors Haut. Die Nachricht traf mich mit ungeheurer Wucht, das Zimmer schien zu schwanken, die Stimmen der anderen hörte ich wie aus weiter Ferne.
Ich sah das Blitzen der Gläser im roten Licht des Feuers und glaubte wie er, unter dem grausamen Schlag zusammenbrechen zu müssen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch so tiefen Schmerz und so bittere Enttäuschung empfinden konnte. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Sälen der Krankenhäuser, an Blut und Krankheit, an sinnloses Leiden, an die unterernährten Kinder und die notleidenden Mütter, an die, welche sich in die Krankenhäuser schleppten und auf ihren Stufen starben, weil sie nicht wußten, wohin, und weil die Ärzte drinnen sie nicht heilen konnten. Ich dachte an die einsamen Abende in dem schäbigen kleinen Zimmer, in dem ich bis spät in die Nacht hinein aufgesessen und an Jennifer gedacht hatte. Wie ist es möglich, fragte ich mich, eine Frau mit solcher Leidenschaft zu lieben, ohne sie überhaupt zu kennen.
Ich dachte an die inneren Kämpfe, das qualvolle Ringen um die Entscheidung zwischen der wissenschaftlichen Karriere mit ihrer Verlockung beruflichen Erfolgs und dem brennenden Verlangen, Jennifer Adams wiederzusehen und sie zu lieben...
Ein eisiger Hauch wehte durch meine Seele, in der nun nichts war als Finsternis und Schmerz, Bitterkeit und Niedergeschlagenheit. »Ach, Victor«, hörten wir Harriets hohe, erschreckte Stimme, »du hast den Brief nicht bekommen ? Wir haben ihn vor zwei Monaten abgesandt. Hast du wirklich keine Ahnung gehabt?« Wir sahen Harriet an und versuchten, uns zu erinnern, wie man sich in einer solchen Situation verhält, was sich schickt, und Victor schaffte es zu sagen: »Nein, ich habe keinen Brief bekommen... Ich hatte keine Ahnung.«
Er brachte es fertig, den Blick zu heben und Jennifer anzusehen. Er brachte es fertig, ruhig und gefaßt zu sagen: »Verzeiht mir also bitte, daß meine Glückwünsche so spät kommen.« Ein trostloses Bild stieg vor uns auf und ließ sich nicht vertreiben: das Bild eines Mannes, der sich lächerlich gemacht hat, indem er der Frau, die soeben seinen Bruder geheiratet hat, seine Liebe erklärte. Und im Hintergrund, fern und grau, die Mauern des Kö-
niglichen Krankenhauses von Edinburgh, dessen Tore nun für immer verschlossen bleiben würden...
»Ich habe den Brief nie erhalten«, wiederholte er mit mühsam beherrschter Stimme.
»Die Postverteilung hat am College nie besonders gut geklappt. Aber verzeiht, ich habe nicht mit euch auf euer Glück getrunken.«
Victor hob sein Glas, neigte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas mit einem Zug. Dann sah er wieder Jennifer an. Noch härter wirkte jetzt sein Gesicht, als hätte er eine neue Mauer hochgezogen, um seine Gefühle in Schach halten zu können. Er tat mir in der Seele leid. Victor stand in der Mitte des Zimmers, größer als die drei anderen, und doch schien er an Statur verloren zu haben. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Arme hingen schlaff zu seinen beiden Seiten herunter. Nur er und ich wußten, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorging; nur er und ich spürten die Bitterkeit und den Groll. Seinen Geschwistern zeigte er die Maske, die diese sehen wollten, und verbarg sich hinter ihr. »Nochmals - meinen Glückwunsch«, sagte er. »Das scheint mir ein sehr schneller Entschluß gewesen zu sein. Denn vor fünf Monaten, als ich das letzte Mal hier war, wart ihr doch noch nicht einmal verlobt, nicht wahr?« Sein Ton war leicht und ungezwungen. »Richtig, Victor, damals waren wir noch nicht verlobt. Aber
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