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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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für mich erledigte, stopfte ich in den Rucksack. Ich räumte den Schrank aus, als wollte ich ausziehen. Erst, als ich gepackt hatte, sah ich in einer kleinen Blechdose, die immer auf der Heizung stand, nach, wie viel Geld ich noch hatte. Es waren genau 247 Mark und 26 Pfennig. Da ich selten tanzen ging und mir kaum etwas kaufte, hatte ich genug gespart, um mir den Urlaub leisten zu können. Eigentlich sollte es für Zeiten sein, in denen ich während des Studiums nicht genügend arbeiten konnte. Dafür brauchte ich es nicht mehr. Ich steckte es in mein Portemonnaie und überlegte, ob ich noch bei den Bergmosers klopfe, um sie über meine Reise zu unterrichten. Nach einem Blick auf den Wecker entschied ich mich dagegen. Es war kurz nach Mitternacht. Ich putzte mir nur noch die Zähne, zog mich aus und ging ins Bett.
    Taub lag ich wach, drehte mich von einer Seite auf die andere und ärgerte mich über die Gedanken, die mich überfielen wie die Heuschrecken Ägypten. Wie Insekten fraßen sie sich über meinen Kopf in mein Gedärm, beschleunigten den Herzschlag, die Angst und die Wut. Ich wollte laut ›Arschloch‹ schreien, wenn ein Gedanke den Namen Fritz brachte, ich wollte laut ›Scheiße‹ brüllen, blitzte das Wort Zukunft auf. Mutter, Theodore, Fritz, Vater, die Bergmosers, mein Chef, die Akademie, alle wirbelten in meinem Kopf, ohne dass ich sie zu fassen bekam. Und über jedem Gedanken thronte die Frage: »Was nun?« Unkonstruktiv, lähmend, jede Antwort blockierend, jede Überlegung vernichtend. Zurück nach Altfraunhofen, in dieses Kaff, in dem ein junger Mann schon verdächtig war, wenn seine Feinmotorik es ihm erlaubte einen Teller abzuwaschen, ohne ihn zu zerbrechen? Zu meinem Vater, dem Karrieristen, der es geschafft hat, im Schuldienst zu bleiben, obwohl er ein überzeugter Nazi gewesen ist? Der mich, als ich acht Jahre alt war, aus der Kinderverschickung geholt hatte, nur weil ihm meine Freundschaft zu Heinrich suspekt erschienen war? Was sollte ich meinen Vermietern meine Entlassung beibringen? Was sollte ich ihnen als Kündigungsgrund angeben? Ich hatte alle enttäuscht, nur weil ich war, wie ich war, und nichts dagegen tun konnte. Nur, weil ich verdammter Idiot meine Klappe nicht halten konnte, weil so ein hirnrissiger Depp meine Offenheit ausnutzen musste.
    Ich versuchte die Gedanken zu leiten, Darius irgendwo aus ihnen zu fischen. Ich versuchte zwanghaft zu überlegen, wovon wir uns in seiner Hütte ernähren sollten. Aber es war vergeblich. Fragen zu dem Einzigen, was ich über die Zukunft wusste, fanden keinen Halt. Sie wurden abgestoßen durch den Vorwurf, verkommen zu sein. Sogar jetzt, da mich meine kriminelle Neigung in den Ruin geführt hatte, hatte ich nichts Besseres zu tun, als mit einem Freund eine sündhafte Woche in der Einsamkeit zu verbringen. Die Verdorbenheit siegte über den Verstand.
›Du bist nichts, als ein erbärmlicher Perverser‹
, schrien die Heuschrecken und tanzten, bis sie mich in den Schlaf entließen.
     

    Der Morgen zeigte sich grau, als ich erwachte. Es war trocken, aber der Himmel war von Wolken überzogen. Frau Bergmoser klopfte an die Tür und fragte, ob ich mit ihnen frühstücken wollte.
    »Ich komme gleich«, rief ich. Ihre Schritte entfernten sich. Ich zog die Kleidung des Vortags noch einmal an. Die war ja nicht auf der Bühne in Mitleidenschaft gezogen worden. In der Küche saßen Herr und Frau Bergmoser schon am Tisch und warteten, bis ich mich setzte. Frau Bergmoser hatte bereits Kaffee eingegossen, auf dem Brettchen ihres Mannes lag eine Scheibe Brot. Wir wünschten uns einen guten Morgen und guten Appetit.
    »Sie waren so schweigsam gestern Abend«, brach Frau Bergmoser die Stille, »war es ein anstrengender Tag im Theater?«
    ›Du bist verdorben‹, schrien die Heuschrecken, ›du kannst ruhig lügen.‹
    »Ja«, antwortete ich, und als verkündete ich eine gute Nachricht, fügte ich hinzu: »Dafür habe ich ab heute frei.«
    ›Gut so‹, riefen die Heuschrecken, ›aber auch eine halbe Lüge ist eine Lüge.‹
    Herr Bergmoser reichte mir die Butter, seine Frau köpfte ein Ei mit dem Messer, während sie mich ansah und sich für mich freute. »Das ist ja schön. Wissen Sie schon, was sie mit der Zeit anfangen wollen?«
    Geschickte Lügen lassen weite Felder offen, auf denen sich Wahrheit und Unwahrheit die Hand reichen wie Fuchs und Igel. Alles passt ineinander. Wenn sie sich für mich über die freien Tage freute, würde sie sich auch über

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