Haus der Jugend (German Edition)
Zeit nachzuholen, die uns verloren ging, muss er sich verdienen, auszuprobieren, ob es so schön geworden wäre, wie ich es mir immer vorgestellt hatte?
Er hängt am Fenster, muss zur Arbeit, der Blinker meines Autos zeigt immer noch an, dass ich in den Verkehr rollen möchte. Es bleibt keine Zeit für Ängste, für Überlegungen, um ihm eine Antwort zu geben. Ich könnte ihn auf den Abend vertrösten, so hätte ich noch eine Nacht. Aber meine Antwort steht doch fest.
»Natürlich.«
»Danke.« Für einen Kuss ist er zu weit weg. Er klopft nur mit der Plastikdose auf den oberen Rand der Scheibe, nickt kurz und dreht sich fort.
»Wann soll ich dich abholen?«, rufe ich ihm hinterher.
»Um sechs.«
Dann ist die Straße frei und ich kann losfahren. Kein Radio, nur die Gedanken singen in meinem Kopf. Die Zukunft wurde angesprochen – solange er in Hamburg ist. Wie lange wird das sein? Wann wird er wieder fliehen? Ich bin über siebzig und denke für die Ewigkeit? Bleibt er, bis ich ihm die einzige Erfahrung vorlebe, die er nicht machen kann? Obwohl ich rüstig bin, denke ich an den Tod, an Siechtum und an Darius, der mich liebevoll pflegt. Was für perverse Ideen kommen mir beim Autofahren, wenn sich die Zukunft ergibt, die ich mir vor fünfzig Jahren erträumt habe?
Ich muss ihm ein Zimmer einrichten – will er das überhaupt? Oder will er das Bett mit mir teilen?
Ich muss Platz in den Schränken machen für seine Kleidung, für seine Habe – gibt es die überhaupt? Wir könnten einkaufen gehen, ich könnte ihm schöne Hemden kaufen, T-Shirts, Hosen, Schuhe. Er könnte endlich etwas besitzen, weil er einen Platz hat, an dem es bleiben kann – möchte er das? Oder sind das nur die Gedanken eines einfachen Sterblichen, der die Straße zwar kennt, aber froh ist, dass er nur ein paar Tage auf ihr leben musste? Kann er sich im profanen Luxus der Zivilisation wohlfühlen oder braucht er die Freiheit?
Ich muss ihm ein Zimmer einrichten, schon damit er sich verabreden, Freunde einladen und mit ihnen Sex haben kann. Werde ich es aushalten, ihn stöhnen zu hören? Ich kann es ihm doch nicht verbieten.
Die Strecke fahre ich im Schlaf. Ich nehme sie nicht wahr, sie dringt nicht in mein Bewusstsein, aber als ich vor meinem Haus im Brombeerweg parke, registriere ich, dass ich alles richtig gemacht haben muss. Kein Unfall. Den Frühstückstisch decke ich ab, das Geschirr stelle ich in die Spülmaschine, ich mache sauber, ziehe mich aus, stelle mich unter die Dusche und schon bei der Vorstellung, Darius könnte ins Bad kommen, bekomme ich eine Erektion. Ich trockne mich ab, rieche Darius in meinem Bademantel, koche mir frischen Kaffee und mache mir eine Scheibe Brot.
Ich muss einkaufen, bevor ich ihn abhole.
Im Bademantel setze ich mich aufs Sofa, schalte das Fernsehgerät an, solange ich esse. Da Samstag ist, wird ein Biathlonrennen übertragen, das ich mir anschaue, ohne mich dafür zu interessieren. Aber die Erektion verschwindet. Trotz des Gedankens an Darius gestern Abend, nur in meinem Bademantel und an die zukünftigen Abende – als gäbe er sein eigenes Leben auf, wenn er hier wohnt.
Ich flüchte vor meinen Fantasien in die Kleidung, mache das Bett, schüttle die Decken aus und sehe in der Küche und im Keller nach, was ich an Lebensmitteln im Hause habe. Beim Einkaufen komme ich zu mir, kann meine Gedanken darauf richten, was ich uns zu essen mache. Bestimmt keine Dosensuppe, auch wenn die Idee reizvoll ist. Ich kaufe Kräuter, Rindfleisch, Eier, Brot, Milch, Zucker – was man so braucht.
Zurück zu Hause packe ich alles weg, stelle mich in die Küche, drehe das Fleisch durch den Wolf, hacke frischen Thymian und Backpflaumen, reibe eine Limette, zerdrücke Knoblauch mit Salz und würze es damit. Nirgends kann ich so entspannen, wie beim Kochen. Es verscheucht alle Gedanken mit Liebe. Wenn ich aus Grießmehl, Olivenöl, Eiern und Salz Nudelteig knete, quellen lasse und ausrolle, bin ich bei mir. Es gibt nur mich und die Zutaten, die meine Aufmerksamkeit brauchen. Fülle ich das Gehackte in einen Schlauch und drücke es portionsweise in kleinen Häufchen auf den Teig, rolle ich meine Unterlippe zwischen die Zähne, als müsste ich die Balance halten. Kein Darius der Welt könnte mich daraus aufschrecken. Lege ich die zweite Teigplatte darüber und trenne mit einem Zahnrad die Ravioli, schaue ich nur auf die Linie und darauf, dass der Teig nicht reißt. Zeit vergeht wie im Fluge, Minuten und Stunden werden
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