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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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verschwinden, mich in Ruhe lassen, hatte Angst, sie würden ihre Eier in meinen Stamm setzen, die einen Larven zu den Blättern, die anderen zu den Wurzeln wandern, mich auffressen, ausbeuten. Ich war Rebstock, ich war verdorben. Die Läuse hatten recht, weil sie mich verdorben hatten. So laut ich auch schrie, es nützte nichts, die Vorwürfe der Läuse waren lauter. So sehr ich auch strampelte, meine Wurzeln in den lehmigen Boden stieß, die Läuse ließen sich nicht abschütteln. Ich kreischte so laut, dass die Gefängnisaufsicht an die Zellentür schlug und der alte Mann aufwachte. Er kam zu mir ans Bett, rüttelte mich, schlug mir ins Gesicht, brüllte zur Tür:
›Er träumt nur. Gleich wird er ruhig sein‹
, brüllte zu mir:
›Aufwachen! Aufwachen!‹
    Ich riss mich aus dem Traum, setzte mich auf, noch ehe ich richtig bei mir war, noch ehe ich die Augen geöffnet hatte.
    ›
Aufwachen‹
, sagte der alte Mann leiser,
›es ist nur ein Traum.‹
Aber als ich mich in der Zelle umsah, waren die Rebläuse noch da. Sie waren still, beschimpften mich nicht mehr, machten mir keine Vorwürfe mehr, aber sie waren da. Nur um den alten Mann machten sie einen großen Bogen.
    ›Stören sie dich?‹, fragte er.
    Ich nickte.
    ›Stören sie dich, weil sie die Wahrheit sagen?‹
    ›Ist es die Wahrheit?‹
    Der alte Mann nickte. ›Aber es gibt einen Boden, auf dem du wachsen kannst. Willst du ihn kennenlernen?‹
    Ich nickte.
    ›Du wirst alles vergessen. Wer du warst, wer deine Eltern waren, wie du heißt. Du wirst immer den Namen tragen, den die Menschen dir geben werden. Keine Geschichte haben, nur Gegenwart. Dafür darfst du immer bleiben, wer du bist.‹
    ›Wenn ich keine Geschichte habe, bin ich dann überhaupt irgendwer?‹
    Der alte Mann nickte. ›Natürlich. Du bleibst du. In deiner Prägung bleibst du erhalten, die Fäulnis deiner Wurzeln bleibt bestehen. Es wird dich nur niemand dafür belangen. Und du wirst Spiegel sein für die Geschichten der anderen. Du wirst sie fühlen.‹
    Ich nickte. ›Was muss ich dafür tun?‹
    Die Rebläuse wichen von meiner Kleidung, ich spürte sie aus meinen Haaren fliegen, spürte sich einige in ihnen verfangen, ich sah sie Richtung Fenster fliegen, hinaus in die Freiheit, die mir aus den Worten des alten Mannes entgegenzuleuchten schien. So verlockend erschien mir das Angebot, so traumhaft die Realität, dass ich gar nicht darüber nachdachte, mich und ihn nicht fragte, wer er war. Ich wähnte mich noch im Schlaf, in einem luziden Traum, den ich steuerte.
    ›Du musst nur Ja sagen.‹«
    »Dir hat er den Preis genannt?«
    »Na ja«, sagt Darius. »Etwas verschlüsselt. Jedenfalls habe ich ihn nicht verstanden. Vielleicht war ich auch einfach zu blöd.«
    Ich wünschte, er würde bei den Worten lachen. Längst sind wir hinter Hohenwestedt links abgebogen, hinter Falkenburg wieder rechts. Mittlerweile fahren wir auf der B77 durch Remmels und ich vermisse die endlose häuserlose Weite des Naturparks, die wir schon hatten. Die Sonne steht immer noch flach. Ich öffne die Seitenscheibe ein wenig. Kalter Wind bläst herein und trägt eine Prise Meer ins Auto. In Schleswig Holstein riecht man immer das Meer, selbst, wenn man es nicht sieht. Es wird vom Ost- oder Westwind über das Land getragen und legt seinen salziges Aroma auf die Felder und Wälder.
    »Du musst dich nicht entschuldigen, weil du nicht widerstehen konntest.«
    Jetzt nimmt er die Hand von meinem Bein, zieht das Taschentuch aus der Hosentasche und schnupft aus. »Das möchte ich auch nicht. Ich bin nur froh, dass du es konntest, so schmerzhaft es auch war.«
    Endlich keine Häuser mehr, nur rechts und links ein weites Feld, in der Sonne glänzender Frost und im seitlichen Horizont ein Wald. Erst, als wir links in den Büttenbarg einbiegen, ein letzter Hof vor der Endlosigkeit. Hier ist es so einsam und verlassen, wie ich es in Erinnerung habe. Einsamer noch, der nächste Ort scheint unerreichbar, keine Einkaufsmöglichkeit, kein Laden, in dem mich ein mürrischer Besitzer auf Befehl eines Wolpertingers beschenken könnte.
    Schweigend folgen wir den Biegungen des Weges zwischen den verwaisten Rinderweiden hindurch, bis er hinter einem Buchenknick abrupt zu schmal für das Auto wird und wir zu Fuß weiter müssen. Es ist nicht nur kalt, es ist schweinekalt trotz der Sonne. Kälte, die durch die Kleidung kriecht, vor der auch Windjacke, Wollpullover und dicker Mantel nicht schützen können. Wir ziehen instinktiv die

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