Haus der Jugend (German Edition)
Name in meinen Hemden auch. Es würde mein Zuhause sein, das mich rief, meine Eltern würden auf mich warten, ich würde sie erkennen und in der Freiheit ankommen. Vermutlich hatte nur der Gefängnisaufenthalt mich verwirrt.
Man müsse der inneren Stimme folgen heißt es doch, oder? Das tat ich. Und kam …« Er blickte sich um, sah auf die Regale hinter dem Tresen, die Bierhocker, die grün gestrichenen Türen, die zu den Zimmern hinauf und zur Küche führten. »… zum ersten Mal in dieses Haus. Es war leer und verschlossen. Wie selbstverständlich entnahm ich den Schlüssel der kleinen Klappe neben der Regenrinne, stellte nicht infrage, woher ich davon wusste, heizte, bediente mich an den Vorräten, besorgte neue, hackte neues Holz, bis mir die Einsamkeit auf die Nerven ging. Ich zog durch die Städte, lernte Männer kennen, versteckte mich mit ihnen in den Gebüschen der Parkanlagen und vergaß sie schon beim Orgasmus. Immer hatte ich genug Geld in der Tasche, mir etwas zu essen zu kaufen, immer genug, mir in einer Pension für die Nacht ein Zimmer nehmen zu können. Ich war frei. Doch die Freiheit war öd und leer. Keine Verbindung zu spüren, keine Verpflichtung zu haben, nicht gebraucht zu werden, strengte an. Bei einem Rummel fand ich Arbeit, die ich nur gesucht hatte, um abends zu wissen, was ich tagsüber getan hatte, um Kollegen zu finden, die sich meiner erinnerten, weil sie mich brauchten, die auf mich angewiesen waren. Das war das Schlimmste. Niemand verließ sich auf mich. Wie unsichtbar durchschlüpfte ich alles. Wenn die Polizei Razzien in den verrufenen Bars durchführte, um Homosexuelle aufzuspüren, konnte ich das Lokal verlassen, ohne dass jemand Notiz von mir nahm. Als ich mich vor lauter Leere beim Militär registrieren lassen wollte, blieb ich auf der Bank sitzen. Eine Frau kam herein, sah sich um, fragte, ob da noch jemand wäre oder sie jetzt schließen könnte. Sie sah mich nicht, hörte meine Antwort nicht, spürte nicht, als ich ihren Arm festhielt.« Darius richtet sich auf, lacht, geht zum Buffet, das sich während seiner Erzählung verändert hat. Er öffnet die Deckel der silbernen Töpfe, die auf den Wärmeplatten stehen, sieht hinein, riecht hinein, entscheidet sich, bringt mir und sich eine Schale mit Tomatensuppe mit an den Tisch. »Hey, sagt er. Ich bin unsterblich. Sie hätten mich in den Krieg ziehen lassen sollen.«
Leicht zieht der Duft von Gin aus der Suppe über den Tisch, ich beuge mich nach vorne, probiere. Estragon, ein Hauch Sahne und etwas Chili perlen über meine Zunge, die Früchte müssen richtig reif gewesen sein, so viel Geschmack.
»Wusstest du damals schon davon?«
Darius ist ganz bei der Suppe, atmet das Aroma ein, schiebt den Löffel nur langsam in den Mund, schließt die Augen und öffnet sie erst wieder, als er hinuntergeschluckt hat.
»Wovon?«
»Von der Unsterblichkeit?«
»Nein. Sie wurde mir erst später bewusst.« Er isst weiter, hält, wie vorhin schon einmal inne, sieht mich an, ohne zu schmecken, ohne zu schlucken, ohne Bewegung. Wie auch in der Nacht vor fünfzig Jahren, in der er verschwand. Ich warte. Was passiert gerade? Flüstert ihm das Haus etwas zu? Sind wir nicht mehr allein? Mit einem Ruck kehrt wieder Leben in ihn. »Ich frage mich die ganze Zeit, warum ich dir das alles erzählen kann. Warum kann ich mich in deiner Gegenwart erinnern?«
»Ich kann es in deiner doch auch.«
An diesem Punkt scheinen wir Gemeinsames zu erleben. Längst verschüttete Ereignisse treten hervor, ohne dass wir sie ausgraben müssten. Auf einmal liegen sie an der Oberfläche.
Darius nickt. »Ja«, sagt er. Du kannst es auch. Das liegt aber am Einfluss des Hauses. Dich hat es seine Existenz vergessen lassen. Das kann nicht funktionieren, wenn du dich gerade in ihm befindest. Mich aber hat es meine vergessen lassen. Und jetzt, da ich mich befreien und wieder mit meiner Existenz in Kontakt treten will, darf ich mich auf einmal erinnern?«
»Vielleicht möchte es dich langsam entlassen?« Er kennt das Aloisiushaus besser als ich. Mir fällt keine Erklärung ein, wie auch, wenn nicht mal ihm eine einfällt.
»Ja, vielleicht.« Sein Blick wird wieder ängstlicher. Skeptisch beugt er sich über die Suppe, als wehte im Geist des Gins eine Antwort. Ich sehe ihm zu, viel zu satt, um nachzuschauen, welche Köstlichkeiten sich noch auf dem Buffet befinden.
»Als ich dich vor fünfzig Jahren traf«, fährt er fort, »war etwas anders. Ich habe es nicht gleich
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