Haus der Lügen - 8
gedrängt.
Ich wünschte wirklich , er hätte einen Kommunikator , dachte Merlin bitter. Er ließ sich seine Gedanken aber nicht anmerken, sondern blickte völlig gelassen drein. Kaum dass der Gedanke formuliert war, wusste Merlin, dass ein Kom für Manthyr überhaupt keinen Unterschied gemacht hätte. Zu wissen, dass ein Sturm aufzieht, war ja schön und gut. Aber sonderlich hilfreich war dieses Wissen nicht für eine Flotte hölzerner Segelschiffe, die ohnehin zu langsam waren, um dem Sturm auszuweichen. Selbst Owl war überrascht gewesen, wie schnell der Sturm sich zusammengebraut hatte. Als die KI die potenzielle Bedrohung geortet hatte, hatte sich Manthyr bereits auf direktem Wege zur Klaueninsel befunden. Da es nirgends in der Nähe einen Hafen gab, der einer freundlich gesonnenen Regierung unterstellt war, hatte Manthyr keine andere Wahl, als zu seinem bisherigen Ziel auf Kurs zu bleiben.
Nur war der Sturm nicht das, was Merlin Sorgen machte. Sämtliche von Owls Modellrechnungen führten zum gleichen Ergebnis: Sobald der Sturm die Küste von Tiegelkamp erreichte, würde er einen Großteil seiner Kraft einbüßen – was in mancherlei Hinsicht gut war. Aber zugleich sagten diese Modellrechnungen voraus, dass zuvor Gwylym Manthyrs Galeonen die volle Wucht dieses Sturmes über sich ergehen lassen müssten – wie es jetzt der Fall war. Für das Geschwader unter dem Kommando des Grafen Thirsk, der sich weit im Nordosten befand, galt das nicht. Auch die Dohlaraner würden eine echte Schlechtwetterfront überstehen müssen, aber nichts im Vergleich zu dem Sturm, der Manthyrs Schiffe traf. Denn das Sturmtief erreichte die Dohlaraner erst, nachdem es die Küste von Tiegelkamp passiert hatte. Schlimmer noch: Wenn Thirsk so rasch und vernünftig handelte, wie Merlin das befürchtete, würden seine Galeonen vor dem Sturm Schutz in der Saram Bay suchen.
Dort sicher, würde ihnen Gwylym Manthyrs Geschwader genau in die Arme getrieben.
Merlin Athrawes konnte daran ebenso wenig ändern wie Kaiserin Sharleyan. Er wusste das. Dennoch hätte er gern ein Kom gehabt, um Manthyr vor Thirsk zu warnen. Dann nämlich könnte Manthyr ...
Ja was , Merlin? , fragte er sich selbst. Manthyr weiß doch schon jetzt ganz genau, dass Thirsk irgendwo steckt und nach ihm Ausschau hält. Deswegen ist er doch überhaupt in Richtung Klaueninsel aufgebrochen! Und wenn es etwas gäbe, was er tun könnte, um nicht weiter nach Osten zu driften, glaubst du dann allen Ernstes, dass er das nicht längst täte?
Das stimmte, und auch das wusste Merlin. Insgeheim wünschte er sich, auch er könnte jetzt seinen Zugang zu den SNARCs abschalten – wenigstens lange genug, um die Zeremonie in der Kathedrale mit aller Aufmerksamkeit zu verfolgen. Aber das konnte er nicht. Er konnte es einfach nicht. Also verschanzte er sich hinter Seijin Merlins strengem ›Im-Dienst‹-Gesicht, während ein Teil seines Verstandes nach wie vor diese winzigen Lichtpünktchen beobachtete, die es immer weiter gen Osten trieb.
.V.
Östlich der Harchong-Meerenge, Golf von Dohlar
Es überraschte Gwylym Manthyr nicht, dass er so müde war. Nach den Ereignissen der letzten drei Tage wäre er erstaunt gewesen, wenn sich seine Knie nicht ein wenig weich angefühlt und seine Augen nicht gebrannt hätten.
Er streckte sich und gähnte, während er sich im Schein der Morgensonne auf dem Achterdeck der Dancer umschaute. Sein Flaggschiff hatte den Sturm mehr oder minder unbeschadet überstanden. Ganz ungeschoren davongekommen war es aber auch nicht. Obwohl Manthyr die Royal- und die Großbramstenge hatte niederholen lassen, hatte die Dancer Groß- und Kreuzstenge verloren, als eine ganz besonders hohe Welle über ihr gebrochen war und das Schiff beinahe zum Kentern gebracht hätte. Die Dancer hatte sich wieder aufrichten können – auch wenn Manthyr in jenem Moment wirklich nicht darauf gewettet hätte. Die heftige Schlingerbewegung hatte sie dabei allerdings die Mastspitzen gekostet.
Das Gute war, dass der Wind tatsächlich gedreht hatte. Jetzt kam er aus Südsüdost, weit genug von achteraus, dass die Dancer wieder einen Westkurs anlegen konnte. Unter Groß- und Bagiensegel sowie den Vormarssegeln lag das Schiff auf Steuerbordbug. Die Segelfläche war zwar sonderbar verteilt und das Schiff nicht recht ausgetrimmt, aber mehr konnte Captain Mahgail nicht tun, solange er nicht die verlorenen Masten ersetzen konnte. Bedauerlicherweise waren Großbramstenge und Kreuzbramstenge an die
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