Haus der Lügen - 8
lassen.
.IV.
Kathedrale von Tellesberg, Stadt Tellesberg, Altes Königreich Charis
Kaiserin Sharleyan wüsste Merlin Athrawes in recht scharfem Ton das eine oder andere an den Kopf zu werfen, sobald sie es herausfände. Merlin fand, ihre nachdrückliches Urteil über seinen Charakter hätte er dann auch verdient ... Die Bemerkungen über seinen Intellekt hingegen dürften unangemessen sein. Aber Merlin war bereit hinzunehmen, was immer an Schimpfkanonade Sharleyan gegen ihn einsetzte.
Abgesehen davon hatte Cayleb Recht , dachte Merlin grimmig und blickte zu dem vielfarbigen Licht hinüber, das die Morgensonne durch die Glasmalerei-Fenster der Kathedrale warf. Das Letzte, was sie gebrauchen kann, ausgerechnet heute , wären schlechte Nachrichten, die sie ablenkten!
In der ganzen Pracht seines bischöflichen Ornats stand Erzbischof Maikel Staynair vor dem Altar. Die Rubine in seiner Krone funkelten, und Staynair strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Majestät Kaiserin Sharleyan Alahnah Zhenyfyr Ahlyssa Tayt Ahrmahk schritt ihm bedächtig über den dicken, karmesinroten Teppich entgegen. Die Stimmen des Kathedralen-Chores schwangen sich zu neuen Höhen auf. An der Seite Ihrer Majestät ging Seine Majestät Kaiser Cayleb Zhan Haarahld Bryahn Ahrmahk. In ihren Armen hielt die Kaiserin die lautstark protestierende Kronprinzessin, die gleich auf den Namen Alahnah Zhanayt Naimu Ahrmahk getauft würde.
Das lange schwarze Haar fiel der Kaiserin bis über die Schultern; zusammengehalten wurde es nur durch den zierlichen goldenen Reif eines schlichten Diadems, ohne aufwändige Verzierung, ohne einen einzigen Edelstein. Cayleb neben ihr war ebenfalls schlicht gekleidet. Um den Hals hatte er die Smaragd-Kette, die den König des Alten Charis auszeichnete, keine Krone. Der einzige Schmuck, den das Kaiserpaar ansonsten trug, waren die Eheringe. Sie hätten ein beliebiges charisianisches Ehepaar sein können, das seine neugeborene Tochter vom Dorfpriester segnen und taufen lassen wollte. Doch keine Dorfkirche war jemals so überfüllt gewesen und so voller atemloser Spannung, wie die Kathedrale von Tellesberg an diesem Tag.
Nein , dachte Merlin, Sharley hat schon genug andere Dinge im Kopf, und es ist viel wichtiger, dass keiner der beiden abgelenkt wird, bis wir das hier hinter uns gebracht haben.
Natürlich ging es heute um mehr als nur die Taufe der kleinen Kronprinzessin. Jeder in ganz Tellesberg wusste bereits, wer Kronprinzessin Alahnah war. Doch am heutigen Morgen würde ihr Name offiziell und formal verzeichnet werden. An diesem Tag würde im Sinne ihrer Eltern und aller weltlichen und geistlichen Regenten des Kaiserreichs Charis endgültig festgelegt, dass sie nicht nur der jüngste Untertan dieses Reiches war, sondern die Erbin des Thrones: die Erbin der Krone des Alten Charis ebenso wie die Erbin der Kronen von Chisholm, Emerald, Zebediah, Corisande und (auch wenn das sonst noch niemand wusste) von Tarot. Gewiss, es war nur eine Formalität, aber eine wichtige, unerlässliche Formalität, die keinerlei Ablenkung gestattete.
Trotzdem wird Sharleyan sauer sein , gestand sich Merlin ein. Sie ist ja schon wütend genug darüber, dass Seamount nicht so ganz in den Inneren Kreis aufgenommen wurde. Wenn sie jetzt noch herausfindet, dass ich Owl angewiesen habe, sie von sämtlichen SNARC-Aufnahmen von Gwylym und seinem Geschwader auszuschließen, wird sie Hufeisen zerkauen und Nägel ausspucken!
Das einzig Gute daran war, dass er, auf Caylebs Rat hin, das Gleiche auch für den Kaiser getan hatte. Im Gegensatz zu Sharleyan wusste Cayleb von dem tosenden Sturm, in dem Gwylym Manthyrs Galeonen gefangen waren. Aber auch dem Kaiser war der Zugriff auf die entsprechenden SNARCs im Orbit vorübergehend verwehrt. Das Schauspieltalent Seiner Majestät überzustrapazieren war ja nicht nötig.
Nein, ›Schauspieltalent‹ ist der falsche Ausdruck , korrigierte sich Merlin innerlich. Das impliziert über die Kunst der Verstellung zu verfügen. Cayleb verstellt sich nicht, er konzentriert sich nur einfach ganz auf das bevorstehende Ereignis. Seine Konzentrationsfähigkeit ist beeindruckend angesichts der Sorgen, die er sich darüber machen wird, was Gwylym gerade widerfährt.
In Tellesberg war später Vormittag, im Golf von Dohlar tiefe Nacht. Mit einem Teil seines Verstandes verfolgte Merlin die Kette winziger Lichter, die über eine stilisierte Karte hinwegzogen: Manthyrs Geschwader wurde tiefer und tiefer in den Golf
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