Haus der Lügen - 8
Ahnung, wer ihn verraten hatte. Irgendjemand musste es getan haben! Schlimmer noch, es musste jemand aus seinem eigenen Orden gewesen sein. Das kam ihm gallebitter an. Doch so sehr er sich auch sträubte, der Wahrheit ins Antlitz zu schauen: Nur so konnte dieser auf ewig verdammte Gahrvai gewusst haben, wo man ihn im Kloster Sankt Zhustyn hatte finden können. Nur der Schueler-Orden wusste von den verborgenen Räumen, von dem geheimen Eingang am Ende des sorgfältig versteckten Tunnels. Es musste jemand gewesen sein, der Waimyn sehr nahe gestanden hatte, jemand, dem er vertraut hatte. In jener katastrophalen Nacht seiner Verhaftung hatten Gahrvai und die anderen Verfluchten des Regentschaftsrats die gesamte Organisation enthauptet, die Waimyn unter so großer Mühe aufgebaut hatte. Nein: nicht nur enthauptet, völlig zerschlagen! Es drehte Waimyn den Magen um – und zwar buchstäblich: Er spürte, wie schon wieder Übelkeit in ihm aufstieg –, wenn er nur daran dachte: Gebürtige Corisandianer, die behaupteten, Gott zu lieben , hatten wissentlich und bewusst den einzigen organisierten Widerstand in Manchyr zerschlagen! Und dessen Ziel war doch kein anderes, als den Schmutz, das Gift und die Lügen der verfluchten, abtrünnigen Ketzer zu bekämpfen, die auf der Seite der ›Kirche von Charis‹ standen!
Waimyn schluckte den Brechreiz hinunter und zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Dann öffnete er wieder die Augen und starrte erneut den Galgen an.
Morgen wäre es an ihm, diese Stufen zu erklimmen. Er spürte, wie bei diesem Gedanken die Furcht aufstieg. Doch noch war der Zorn größer als die Angst. Waimyn war bereit, für Gott zu sterben. Er würde nicht dafür um Verzeihung bitten, Gottes wahren Willen verteidigt zu haben, Seinen Plan für die Menschheit. Es war Waimyns Aufgabe gewesen, die gottlosen Lügen und die Verderbtheit der anderen zu bekämpfen! Doch er war ein geweihter Priester. Er war kein einfacher Straftäter, kein kleiner Krimineller, der durch die ungeweihten Hände der weltlichen Autoritäten gehenkt werden durfte – selbst wenn er einen einzigen Herzschlag lang die Rechtmäßigkeit dieser Autorität anerkannt hätte! Die Heilige Schrift selbst lehrte das unmissverständlich: Nur Mutter Kirche besaß Autorität über ihren Klerus. Nur sie konnte ein Strafmaß festlegen, und nur ihr stand es zu, diese Strafe auch zu vollstrecken.
Aber auch dafür haben die eine Antwort parat, nicht wahr? Waimyn fletschte die Zähne, und seine Hände verkrampften sich so fest um das Zepter an seinem Hals, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Den weltlichen Autoritäten steht es nicht zu, einen Priester zu hängen? Na, dann erkennen wir ihm doch seine Priesterwürde ab!
Und genau das hatten sie getan. Die exkommunizierten Verräter hatten es gewagt – sie hatten es wirklich und wahrhaftig gewagt! –, einem Priester das geistliche Amt zu entziehen, das der Großvikar persönlich ihm im Tempel verliehen hatte! Sie stellten ihren Shan-wei-verwünschten Stolz und ihre Arroganz über alles andere, noch über die Erzengel und selbst über Gott. Sie hatten Waimyn tatsächlich erklärt, er sei nicht länger ein Priester Gottes. Sie erklärten, sie – sie! – hätten das Urteil gefällt, er sei nicht nur in den Augen dieser weltlichen Marionetten aus Charis ein Verbrecher, sondern auch vor dem Gesetz Gottes. Sie hatten erklärt, die Hinrichtung des Ketzers Hahskans sei nicht etwa im Namen der Inquisition vollstrecktes Recht, sondern schlicht und einfach Mord gewesen. Und der noch viel schlimmere Ketzer Gairlyng – ›Erzbischof‹ Klairmant, ha! – hatte den Vorsitz gehabt und erklärt, er , Waimyn, habe dadurch, dass er diese Hinrichtung angeordnet habe, die Heiligkeit der Priesterwürde verletzt. Gairlyng, der abtrünnige, exkommunizierte Ketzer, hatte ein Urteil über den rechtmäßigen Intendanten von Corisande gesprochen! In einer profanen, ketzerischen Verletzung jedes einzelnen kirchenrechtlichen Gesetzes hatte er Waimyn aus der Priesterschaft der Kirche ausgestoßen. Die Begründung: er habe einen Konfrater, einen Bruder und ein unschuldiges Kind Gottes foltern und ermorden lassen. Ha! Ermorden!
Waimyn hatte vorher nicht glauben wollen, jemand könne derart unverschämt sein. Sich vor Gott versündigen und sich selbst diese Autorität anmaßen! Doch genau das hatte dieser so genannte Erzbischof getan, und die weltlichen Autoritäten hatten sein Urteil akzeptiert. Ja, sie hatten es sogar begrüßt
Weitere Kostenlose Bücher