Haus der roten Dämonen
Straße. Mittlerweile hatte es heftig zu regnen begonnen.
Als sie auf den Platz hinaustraten, fühlte Julia, was sie seit jeher gefühlt hatte, wenn sie ihn betrat: ein beklemmendes Unwohlsein seiner Weite wegen. So groß war er, dass alles geschehen konnte, bevor man ihn überquert hatte. Nur der Krocin-Brunnen in seiner Mitte gliederte ihn. Ein Dom aus Wolkenbänken überwölbte den Markt und Regenschleier verbargen seine eigentliche Größe.
»Wir müssen drüber, egal wie viele Wachhunde unterwegs sind. Es dauert sonst zu lange.« Im Vorüberhasten deutete Jan auf die astronomische Uhr am Rathaus. »Damit hat alles begonnen!«, flüsterte er. Julia blickte hinauf auf die beiden Zifferblätter der Uhr, die Tage und Stunden anzeigten, ja sogar die Monate nannten, die Neu- und Vollmonde vorhersagten und selbst die Länge des Tages und der Nacht festhielten.
»Warum damit?«
Jan zeigte auf das Skelett, das rechts neben dem obersten Zifferblatt schwebte. »Der Knochenmann reißt mit einem Arm am Seil der Sterbeglocke, mit dem anderen hält er eine Sanduhr hoch. Damit mahnt er das Ende aller Zeiten an, heißt es, und nur die Fürbitten der zwölf Apostelfiguren, die daraufhin über ihm in den beiden Fensteröffnungen einzeln und nacheinander erscheinen, könnten dies verhindern. Wenn jedoch die Uhr stillsteht, dann soll dieses Ende der Zeit, das Ende der Stadt gekommen sein. Ihr Schöpfer, Magister Hanus, wurde vor fast einhundert Jahren geblendet, damit er für keine andere Stadt ein solches Kunstwerk ausführen konnte. Kurz vor seinem Tod ist er dort hinaufgestiegen und hat den Apostelumzug angehalten. Als Mahnung
an die Ratsherren. Die Uhr stand daraufhin für ein halbes Jahrhundert still, und der Glanz Prags verblasste, bis sich ein weiterer Magister daran wagte, ein neues Werk zu bauen und in Gang zu setzen. Doch jetzt steht sie wieder still. Seit einer guten Woche. Seit dieser Contrario sein Unwesen treibt.«
Offiziell hieß es, das Dach sei derzeit undicht, was den Schaden an der Uhr verursacht haben sollte. Davon hatte Julia gehört.
»Warum soll damit alles begonnen haben?«, fragte sie, während sie sich langsam wieder erholte und von Jan nicht mehr schleppen lassen musste.
»Weil sie immer schon eine Mahnung ist für alle Bewohner der Stadt. Sie bleibt immer dann stehen, wenn die Bürger gegen die guten Sitten verstoßen. Der Gier halber, des Eigenprofits wegen.«
Julia kannte die Uhr und ihre Geschichte natürlich, dennoch wunderte es sie, dass ihr Stillstand mit Contrarios Auftauchen zusammenhängen sollte. Sie schüttelte nur den Kopf. Die Menschen waren zu abergläubisch. Sie sahen überall Zusammenhänge und Beziehungen, wo weder die einen noch die anderen vorhanden waren. Da leuchtete ihr der Zusammenhang mit dem undichten Dach schon eher ein.
Ein Blick über den Platz verscheuchte ihre Gedanken. Vor ihr tauchte aus den Regenschleiern die imposante Silhouette der Teyn-Kirche auf. Zwei große Türme flankierten den hohen Baukörper, dessen mittleres Fenster bis zu einer Balustrade hochreichte. Die Türme waren in diese Front eingebunden und erst über der Balustrade erhoben sie sich als eigenständige Türme. Die Dächer ragten steil und spitz empor. An den Ecken wurden sie geschmückt durch jeweils vier weitere kleine Türmchen. Auch auf den Traufenseiten
der Dächer saßen wieder jeweils vier kleine Türmchen, sodass die Turmspitzen wie kleine Nadelkissen wirkten. Vor dem Kirchenbau war das Gebäude der Teyn-Schule angebaut, die den unteren Teil der Kirche verdeckte.
Am Rand des Platzes erhob sich ein Geschrei, als sie auf ihn hinaustreten wollten. Jan hielt Julia und Kithara zurück.
»Jesuiten!«, stieß er hervor. Er spuckte den Namen regelrecht aus. »Eierköpfe, die nur reden und reden, aber nicht die geringste Ahnung davon haben, was sie mit ihrem Gewäsch den Menschen antun. Sie haben meine Mutter in den Tod geredet!« Sein Gesicht verzerrte sich vor Hass. »Sie waren es, die das Zeichen auf der Schulter meiner Mutter eindeutig als Teufelsmal erkannt haben wollen. Sie haben den Prozess gegen die angebliche Hexe geführt und dem Burgvogt vorgeschlagen, meine Mutter zu verbrennen, um ihre Seele zu retten und die wahren Christenmenschen vor ihr zu schützen.« Jans Atem ging schneller. »Sie sind eine Plage für das Land, für diese Stadt«, zischte er. »Ihnen ist die Religion wichtiger als der Mensch, für den sie da sein sollten.«
Tatsächlich stritten sich vier Jesuiten in den
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