Haus der roten Dämonen
geben. Es musste sie einfach geben.
Ein Floß näherte sich den Pfeilern der Brücke und zog für kurze Zeit die Aufmerksamkeit beider Kreaturen auf sich. Es war ein langes, schmales Floß, das so gebaut war, dass es sich in der Mitte zweimal leicht knicken ließ, um den Windungen der Moldau besser folgen zu können. Einer der Flößer, Jan zählte insgesamt deren zwölf, alle mit langen Ruderstangen in der Hand, deutete auf die beiden Wesen. Ein Warnruf erscholl, die Köpfe der Männer ruckten herum und starrten alle in dieselbe Richtung.
In spontaner Eintracht ließen die Unwesen voneinander ab und wandten sich dem Moldaufloß zu. Das Flugwesen hob ab in die Luft und ließ sich mit einem Kreischen auf die Männer herabstürzen, die Waren und Holz aus den Wäldern Böhmens herantransportierten. Der Leu selbst beugte sich über die Brücke hinaus und fischte mit einer Pfote nach den Flößern. Die Männer ließen ihre Stangen los, sprangen ins eisige Wasser und suchten ihr Heil in der Moldau. Doch die Flugchimäre angelte sich mit einer Pfote einen der Männer heraus, hob sich mit ihm in die Lüfte und ließ den armen Kerl wieder zurück auf die Erde fallen. Sein Schrei hallte über Prag hinweg und war Ausdruck des Schreckens und der Peinigung, die diese Stadt überfiel.
Julia berührte Jan an der Schulter.
»Jan, das musst du sehen!«
Zuerst wusste er nicht, was Julia ihm zeigen wollte. Nach der kurzen Episode mit den Flößern hieben die Dämonen weiter mit unverminderter Härte aufeinander ein, brüllten und fauchten und zeigten dennoch keinerlei Ermüdung. Jeder Prankenhieb saß, jeder Biss eines der Köpfe riss die Flanken des Flugpanthers mit dem Natternkopf auf, und hätte nur einer von ihnen Wirkung gezeigt, wäre das Ende der verletzten Kreatur besiegelt gewesen.
Doch dann fiel ihm eine Bewegung auf. Ganz am Fuß der Brücke, dort wo die Kampa-Insel begann, erschien ein wirrer Schopf. Ein krächzendes Stimmchen erhob sich und schrie gegen das Brüllen der Kreaturen an. Diese schienen jedoch keine Notiz von dem Männchen zu nehmen, das da auf sie zukam, bis es die Arme hob. Buntfleckige Hände kamen zum Vorschein – und jetzt wusste auch Jan, wer dort stand: Contrario-Buntfinger.
»Was um alles in der Welt tut er da?«
Auch Julia konnte ihm darauf keine befriedigende Antwort geben. Der Adlatus stand mit hoch erhobenen Armen mitten auf der Brücke und schrie aus Leibeskräften auf die Kreaturen ein.
Die schienen ihn nun endlich wahrzunehmen. Sie ließen sich nieder, darauf bedacht, etwas außerhalb der Reichweite der Pranken ihres jeweiligen Gegners zu bleiben. Wie gebannt sahen sie auf die erhobenen Arme.
»Er hat sie geschaffen und er kann ihnen befehlen«, flüsterte Jan. »Er beruhigt sie. Womöglich …« Jan verstummte, weil der Adlatus seines Meisters jetzt eine Leinwand in der Hand hielt. Sie hörten nicht, was er schrie, doch Jan sah, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses und vermutlich auch auf ihrer Uferseite Fenster öffneten und Menschen dem Spektakel zusahen.
»Glaubst du, er kann sie töten?«, fragte Julia, die ganz aus ihrem Versteck herausgetreten war.
»Er kann es. Die Frage ist, ob er es will. Contrario ist kein wirklich guter Maler. Er hätte Mühe, die Bestien in dieser Form noch einmal neu zu schaffen.«
Verblüfft sah Julia ihn an. »Ich finde, die beiden Tiere hier sind ihm ganz gut gelungen. Wenn das nur Laienarbeiten sind, dann möchte ich nicht wissen, wie ein Wesen aussieht, das gut gezeichnet ist.«
Am liebsten hätte Jan ihr jetzt alles erzählt, hätte verraten, dass er der Künstler des Leu war, doch sein Mund war wie zugenäht. Kein Sterbenswort kam über seine Lippen. Gleichzeitig fühlte er sich schlecht dabei. Irgendwann musste er es gestehen. Schließlich waren all die Verwüstungen zum Teil ihm zu verdanken. Er mochte die zarte Pflanze ihrer Freundschaft nicht auf einem unausgesprochenen Geheimnis gründen. Doch er brachte seine Beichte nicht über die Lippen.
Gebannt sahen die beiden Jugendlichen zu, was dort über dem trüben Wasser der Moldau geschah, während das herrenlose Floß an den Brückenpfeilern zerschellte. Der Adlatus machte aus den Bestien harmlose Geschöpfe, die sich von ihm streicheln ließen, als wären sie zahme Haustiere.
Dem Leu kraulte er zuerst einen der Köpfe, dann ging er zur Chimäre hinüber und untersuchte deren Hautflügel. Das Tier schien es zu genießen, denn es legte seinen Natternkopf auf die Pfoten
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