Haus der roten Dämonen
Nebeltröpfchen, als würde man einen Vorhang zuziehen.
»Ich will zu Rabbi Löw!«, sagte das Mädchen. Und im Stillen dachte sie verärgert. Jetzt habe ich kein Geschenk mehr für ihn.
»Ich glaube nicht, dass Rabbi Löw etwas dagegen hat, wenn das Huhn eines Goj von einem Goj verzehrt wird«, sagte der Mann und lachte.
Julia fuhr sich mit einer Hand an den Mund. Konnte der Kerl in ihren Kopf sehen?
»Nein«, antwortete der Mann erneut, als hätte sie ihre Gedanken wieder laut ausgesprochen, »ich kann keine Gedanken lesen. Ich überlege nur ein wenig genauer als viele Menschen. Was hattest du wohl sonst mit dem Huhn vor?« Er grinste über beide Mundwinkel bis hinauf zu den Ohren, was Julia ein wenig das Unbehagen nahm. »Außerdem hast du noch den Wein. Er wird dem Rabbi munden, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Wollt Ihr mir helfen, zu Rabbi Löw zu kommen?«, fragte sie schon ein wenig mutiger.
»Stimmt. Das wolltest du ja. Zu Rabbi Löw«, brummte der Fremde, als hätte er ihre Bitte von eben schon wieder vergessen gehabt. Der Mann schien in Julias Augen ein wenig verwirrt.
»Kennt Ihr den Rabbi?«, hakte sie nach.
»Judah Löw? Kenn ich, kenn ich. Komm mit. Du wirst ihn ebenfalls kennenlernen.«
Der Mann drehte sich um und schritt dem Tor in der Judenmauer zu. Dabei murmelte er ständig irgendwelche Sätze vor sich her, als wollte er den Nebel beschwören, und wackelte dabei gleichzeitig mit dem Kopf, als wäre das Gelenk am Hals locker.
Julias Unbehagen meldete sich wieder. Konnte sie dem Unbekannten trauen? Wohin würde er sie führen? Bei dieser schlechten Sicht konnte er überall mit ihr hingehen und
sie würde es nicht bemerken. Sie beschloss, vorsichtig zu sein und den Mann auszufragen.
»Wie sieht er aus?«, fragte Julia, nur um nicht ganz stumm in ihr Unglück zu rennen.
»Wer? Löw? Oh, er ist ein alter Mann, der ständig vor sich hin murmelt, als wäre er nicht recht bei Sinnen. Dürr wie eine Bohnenstange. Außerdem ein Eigenbrötler. Kein Mensch, der gern unter Menschen geht, und ein Sonderling in einem alten, faltigen Kaftan mit einem weißen Schal um die Schultern und einem hohen, knittrigen Hut auf dem Kopf.«
Julia blieb stehen. Was hatte der Alte da gesagt? Sie betrachtete ihn von der Seite. »Aber die Beschreibung trifft genau auf Euch zu.«
Auch der Alte blieb stehen. Scheinbar verblüfft sah er an sich herunter. »Tatsächlich. Nun, ein durchschnittlich begabter Mensch würde daraus wohl schließen …«
»… dass Ihr Rabbi Löw seid?«, stieß Julia hervor. »Seid Ihr es?«
Der Gesichtsausdruck des alten Mannes wurde weich. Ein Schalk lag in seinen Augen, doch er schien sich zu beherrschen. Langsam trottete er dahin, Julia im Schlepp. »Ja, Kind, ich bin Rabbi Löw.«
»So ein Zufall«, entfuhr es Julia unwillkürlich.
Jetzt musste der Rabbi herzhaft lachen. »Oh, ihr Goj. Wenn ihr etwas nicht erklären könnt, dann ist es Zufall.« Löw machte eine kleine Pause, in der er tief durchatmete, als müsste er überlegen, ob er etwas erneut sagen sollte, das er bereits hunderte Male gesagt hatte. »Es gibt keinen Zufall in dieser Welt«, ließ er schließlich verlauten. »Es gibt nur Schicksale, die wir kennen, und Schicksale, die uns verborgen bleiben, weil wir nicht über das nötige Wissen verfügen.«
Über diesen Satz musste Julia erst mal nachdenken. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihn verstanden hatte.
»Wollt Ihr damit sagen, Ihr wusstet, dass ich kommen werde?«
»Mein Schicksal liegt vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem ich lese. Ich wusste, dass du kommen würdest, Mädchen.« Der Rabbi lächelte.
Julia hatte nicht bemerkt, wohin sie weitergegangen waren. Die Häuser standen eng, und der Nebel, der sie umgab, tauchte alles in ein wattiges Licht, das Zeit und Raum miteinander verschmelzen ließ. Erst als der Rabbi einen eisernen Schlüssel in die Hand nahm, der an seinem Gürtel hing, sah sie, dass sie bei der Altneusynagoge standen. Judah Löw steckte den gewaltigen Haken in ein Türloch, hob den inneren Riegel beiseite und trat ein. Julia blieb wie angewurzelt stehen.
»Du wolltest doch Rabbi Löw kennenlernen. Jetzt hast du Gelegenheit dazu.«
Vorsichtig trat Julia auf die Schwelle. Sie musste sich sehr überwinden. Das Haus roch so fremd, so abweisend und eigen, als wollte es keine Fremden bei sich beherbergen.
»Keine Sorge, das ist nur der erste Eindruck – am Eingang. Es soll Bettler und Fremde abschrecken.«
Am liebsten hätte Julia
Weitere Kostenlose Bücher