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Haus der roten Dämonen

Titel: Haus der roten Dämonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Dempf
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Boden zog. Dann war da nichts mehr, kein Haus, kein Messer Arcimboldo mehr, selbst die Furcht vor den Schmerzen war wie weggeflogen und er fühlte sich leicht.

10
    Der Meister der Dämonen
    J ulia betrachtete die Lippen des Rabbi, die sich unablässig bewegten, als würde er den Text, den er las, vor sich hin flüstern. Dabei tat er etwas ganz anderes.
    »Stör mich nicht«, hatte Judah Löw zu ihr gesagt, bevor er den Blick ins Buch gesenkt hatte. »Solange ich lese, muss ich Gebete sprechen, sonst gewinnt das Buch zu viel Macht über mich. Du darfst nicht einmal hineinschauen, geschweige denn einen Brocken mitlesen. Hörst du? Am besten ist, du schließt die Augen, solange ich lese.«
    Julia hatte genickt, die Augen geschlossen – und sich schließlich gelangweilt. Irgendwann hatte sie die Augen geöffnet und den Rabbi betrachtet. Rabbi Löw stand da, in höchster Konzentration versunken, und las und las und las. Ein unaufhörlicher Schwall von Gebeten ergoss sich über seine Lippen. In regelmäßigen Abständen musste er umblättern. Mit seinem ganzen Gewicht legte er sich dann auf die Buchseite, die er umwenden musste, nahm den Stein herunter, ließ eine Ecke sich heben, legte den Stein wieder darunter, sodass nur die eine Seite lose war, und erhob sich. Das freie Blatt flatterte wie wild hin und her. Dann legte er
sich wieder mit seinem ganzen Gewicht auf die lose Seite, drückte sie hinab und zog den Stein, der die Unterseite festhielt, darunter hervor und legte ihn obenauf. Eine mühsame und aufregende Art umzublättern, dachte Julia amüsiert.
    Sie bemühte sich, nicht auf das Buch zu schauen, doch es gelang ihr nicht. Selbst wenn sie den Rabbi betrachtete, fielen ihr am untersten Rand ihres Blickfelds die bunten Bilder auf. Die zogen ihre Aufmerksamkeit magisch an. Der Rabbi hatte nicht erwähnt, dass das Buch illustriert und mit farbigen Majuskeln ausgestattet war. Etwas in ihr drängte sie, immer längere Blicke auf die Handschrift vor ihr zu wagen. Sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Was sollte auch passieren? Schließlich lag das Buch verkehrt herum. Eine Malerei, die ein fliegendes Wesen zeigte, ließ sie die Warnung des Rabbi schließlich ganz vergessen. Das Fabeltier sah so echt aus, so lebendig. Ein Leu, der mit Flügeln ausgestattet war, die er gerade ausbreitete, und der seine Vordertatzen in die Höhe hob, als wollte er von einer Bergkuppe abheben. Die Buchstaben daneben konnte sie nicht entziffern. Julia beugte sich nach vorne, um das Bild genauer betrachten zu können. Plötzlich hatte sie das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie rutschte nach vorn – und ein ohrenbetäubendes Brüllen ließ sie beinahe taub werden.
    Julia erschrak. Ihre Hände klatschten auf kahlen Stein. Unwillkürlich rutschte sie zurück. Keinen Augenblick zu früh, denn vor ihr krachten riesige Pranken auf blanken Fels. Die Krallen zerbröselten das Gestein und ließen einen feinen Regen von Splittern über sie hinwegsprühen. Voller Grausen blickte Julia hoch und sah über sich das Wesen aus der Handschrift, den Leu mit Flügeln, der sich eben noch in die Luft erheben wollte und jetzt mit hungriger Neugier auf sie herabblickte.
    Wie konnte das sein? Wo war sie?

    Ein rascher Blick ringsum zeigte ihr, dass sie jedenfalls nicht mehr in der Studierstube des jüdischen Gelehrten saß, sondern auf einem Bergplateau – vor sich ein gefährliches Wesen. »Tu mir nichts«, flüsterte sie, während erneut ein Brüllen die Erde beben und ihre Lippen zittern ließ. Was hatte sie nur getan? Rabbi Löw hatte ihr verboten, in das Buch zu sehen. Er hatte sie gewarnt und ihre Wissbegier, ihre verfluchte Neugier hatten sie den Rat in den Wind schlagen lassen. Jetzt saß sie hier vor diesem Leu und konnte nur hoffen, dass dieser heute bereits gefressen hatte.
    Ein heißer Wind fuhr ihr durchs Haar. Julia sprang auf und hastete davon, ohne noch einmal nach oben zu sehen. Die heiße Luft konnte nur eines bedeuten: Der Riese über ihr senkte seinen Kopf. Der Atem seiner Nüstern zielte auf sie herab. Das wiederum hieß vermutlich, er hatte Hunger. Obwohl ihr bewusst war, dass sie es niemals schaffen würde, das Plateau zu verlassen, musste sie versuchen, aus den Augen des Ungeheuers zu verschwinden. Nur wenn der Leu sie nicht mehr sah, war sie kein Fressen mehr für ihn.
    Um sie her begann es zu regnen. Riesige, zähe, stinkende Tropfen fielen vom Himmel und schlugen links und rechts von ihr ein: Speichel. Das Vieh hatte

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