Haus der roten Dämonen
Chimäre erzählt, ich habe Euch das Wesen beschrieben. Mir habt Ihr diese Mitteilung zu verdanken. Ich habe etwas gut bei Euch, Rabbi Judah Löw.« Sie sah ihm direkt in die Augen und versuchte, nicht verschüchtert oder naiv zu wirken.
Rabbi Löw gluckste in sich hinein. »Die Schärfe deines Mundwerks wird nur noch von der Schnelligkeit deiner
Gedanken übertroffen«, sagte er. »Ich hatte nicht vor, dich zurechtzuweisen.« Er legte die Hände gegeneinander, als müsse er sich konzentrieren. »Ich habe ganze Reiche kennengelernt, die von Frauen regiert wurden – und sie wurden nicht besser oder schlechter regiert, als es Männer zu tun vermögen.«
»Ihr wolltet mir etwas über das Necro … Nocre …«, sie konnte sich den Namen dieser Handschrift einfach nicht merken.
»… über das Necronomicon erzählen. Ja, das wollte ich. Der Name setzt sich aus drei griechischen Silben zusammen: necros , was so viel heißt wie ›tot‹, nomos , ›Gesetz‹ und eikon , ›Bild‹. Zusammengenommen heißt es etwa so viel wie: Ein Bild vom Gesetz der Toten. In diesem Buch sind Zaubersprüche, Beschreibungen von Fabelwesen, Anrufungen und Rituale beschrieben, von denen ich dir beim besten Willen nichts erzählen kann. Das meiste davon ist so alt, dass es beim Aufschreiben bereits nahe daran war, in Vergessenheit zu geraten. Und die Beschwörungen, mit denen man unbelebte Lebewesen ins Leben rufen kann, sind zwar erwähnt, die Zutaten und einige Sprüche notiert, doch die gesamte Prozedur war zum Zeitpunkt der Niederschrift längst unbekannt. Das ist jetzt siebenhundert Jahre her.«
»Siebenhundert Jahre!«, wiederholte Julia und betrachtete das Buch. »Ist das Buch wirklich so alt?«
Der Rabbi nickte. »Abdul Al’hazred, der Verfasser dieses Werkes, hat genau drei Abschriften angefertigt. Dies ist die letzte, von der ich weiß. Ein überaus wertvolles Buch.«
»Und überaus gefährlich!«, flüsterte Julia. Mit Schrecken dachte sie an den geflügelten Leu.
»Das liegt am Verfasser«, sagte der Rabbi schmunzelnd und griff sich einen der Kekse, die mitten auf dem Tisch standen. »Nimm nur, sonst esse ich sie alle alleine auf. Das
tut mir nicht gut«, seufzte er. Dann begann er, an seinem Keks zu knabbern und gleichzeitig weiterzuerzählen. »Abdul Al’hazred schrieb zehn Jahre lang am Al Azif . Erst später wurde es Necronomicon genannt. Man hat ihn als den verrückten Araber bezeichnet. Weil er das Buch mit seinem eigenen Blut geschrieben und illustriert hat, lebt wohl ein wenig von seiner Persönlichkeit in dem Werk weiter.«
Julia stand auf und ging auf das Buch zu. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen betrachtete sie die Handschrift und es schauderte sie. Dass es solche Werke gab? Je näher sie ihm kam, desto stärker wackelte und vibrierte es im Regal, als würde es ihre Nähe spüren und sie auffordern, es in die Hand zu nehmen.
»Wenn es so unendlich wertvoll ist, warum steht es dann hier bei Euch, Rabbi, und nicht in der Bibliothek der Universität? Die Universität ist berühmt für ihre Büchersammlung.«
»Das mag wohl daran liegen, dass dieser Abdul Al’hazred – wie soll ich das erklären – ein guter Freund von mir gewesen ist. Und ich seinen Nachlass verwalte.«
Julia blieb der Mund offen stehen. »Ein Freund von Euch? Vor achthundert Jahren?«, ergänzte Julia automatisch. Sie drehte sich zu Rabbi Löw um und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Aber nein, Kind. Es ist nur siebenhundert Jahre her.«
Jetzt erst fiel ihr auf, wie faltig und verlebt dieses Gesicht aussah. Eine wahre Landschaft aus Hügeln und Tälern überzog Stirn, Nase und Wangen. Unzählige Falten liefen kreuz und quer über die Haut und nur an den Augenwinkeln formten sich daraus wahre Fächer an Lachfalten.
Langsam begriff Julia. Der Rabbi nahm sie auf den Arm und wollte ihr nur nicht sagen, woher das Buch stammte. Das musste sie akzeptieren.
»Was werdet Ihr mit dem Wissen anfangen, das ich Euch hierher getragen habe?«
Die Antwort kam schneller, als Julia sie erwartet hatte.
»Nichts«, sagte der Rabbi. »Ich werde nichts unternehmen.«
»Aber … jetzt wo Ihr wisst, dass das Dunkle …« Julia blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
»Sieh es so, Kindchen: Würde irgendein Mensch in dieser Stadt einem Juden glauben, wenn er behauptete, ein angesehener Maler der kaiserlichen Zunft schaffe künstliche Lebewesen, die zur Gefahr für den Hradschin oder Prag selbst würden? Wohl gemerkt: ein christlicher
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