Haus der roten Dämonen
Hunger. Der Speichel troff ihm aus dem Maul. »Das sind keine guten Aussichten«, murmelte Julia. Sie spurtete zwischen den mannshohen Tropfen durch. Die Spritzer brannten auf ihrer Haut. Wenn sie doch nur auf Rabbi Löw gehört hätte! Jetzt erst verstand sie, wie berechtigt seine Warnung gewesen war.
Plötzlich beendete eine riesige Lache ihre Flucht. Sie war zu breit und sie war zu klebrig, um sie zu überwinden. Wäre sie hineingesprungen, hätte sie sich darin vermutlich aufgelöst. Der Speichel ließ nämlich das Gestein ringsum zischen und blubbern, als wäre es flüssig.
Julia drehte sich um und schaute nach oben.
Der Kopf des Leu stand direkt über ihr. Gewaltige Augen blickten sie an. Im ersten Moment dachte sie, für dich bin ich noch nicht einmal ein Floh. Was also willst du von mir? Deinen Hunger kann ich bestimmt nicht stillen. Dann schnellte eine blaue Zunge aus dem Maul und auf sie zu. Julia schloss mit ihrem Leben ab. Ungehorsam wie der ihre musste bestraft werden und das erlebte sie jetzt. Mit offenen Augen blickte sie der herabstoßenden Zunge und ihrem Ende entgegen. Für einen kurzen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass dieser Jan morgen umsonst auf sie am Brunnen warten würde, und ein Bedauern durchzuckte sie, ein kleiner, kaum fühlbarer Schmerz. Sie hätte so gern noch einmal seine Stimme gehört …
Plötzlich veränderte sich der Himmel. Es wurde dunkel. Mit atemberaubender Geschwindigkeit zog ein gewaltiges Gewitter auf. Ein Wirbel durchbrach den Himmel, und bevor die leckende Zunge sie erfassen konnte, riss der Wirbel Julia nach oben. Sie hörte die Zunge noch hart über das Gestein fräsen, dann wurde ihr schwindlig, und Julia drehte und drehte sich, bis sie stolperte und niederfiel.
»Das war gerade zur rechten Zeit, mein Kind!«, hörte sie eine Stimme sagen. Julia war schlecht. Sie wollte weder etwas hören noch etwas sagen. Alles wirbelte in ihr herum. Magen und Hirn schienen noch nicht den rechten Platz gefunden zu haben. Außerdem hatte sie das untrügliche Gefühl, als müsste sie ihr gesamtes Inneres erbrechen, wenn sie jetzt den Mund öffnete.
Sie fand sich auf den Knien wieder, schwer atmend. Rabbi Löw beugte sich über sie und tätschelte ihre Schulter. »Setz dich, Kind«, sagte er. »Ich habe dich doch gewarnt, dass das Buch gefährlich ist. Man muss es lesen können, nur dann darf man einen Blick hineinwerfen.«
Julia musste husten. Ihr Puls jagte, und in ihren Ohren
sauste es noch, als befände sie sich weiter in diesem Wirbelsturm. Nur langsam verschwanden die Bilder aus ihrem Kopf und der Drehschwindel nahm ab.
»Was war das?«, keuchte sie.
»Nur eine Einbildung, mein Kind. Nichts davon war wirklich. Das Buch … es hat von dir Besitz ergriffen, dir etwas vorgegaukelt.«
Julia schluckte. »Das Buch? Aber … wie ist das … möglich? Der Leu, er war so wirklich. Hätte er mich gefressen?«, stieß sie hervor, nachdem sie mehrmals tief Luft geholt hatte.
»Welcher Leu?« Rabbi Löw blieb ernst. »Ach der! Er war nicht wirklich, doch das macht keinen Unterschied. Es wäre geschehen, was du dir gedacht hättest. Wenn der Leu zugebissen hätte, wärst du gestorben. Einfach so. Ohne dass ich eine Bissspur an dir entdeckt hätte. Gedanken allein können töten, Kind. Merk dir das. Es müssen nicht einmal fremde Gedanken sein.«
Julia rappelte sich auf und blickte umher. Sie kniete vor dem Schreibpult des Gelehrten. Als sie hochschaute, lag vor ihr das Buch, noch immer geöffnet und mit Steinen beschwert. Sofort senkte sie den Blick, um ja keinen Buchstaben zu lesen oder auch nur das Schimmern einer Farbe zu sehen. Niemals wollte sie so etwas wieder erleben. Ihr Körper kehrte langsam zurück ins Hier und Jetzt und beruhigte sich.
»Ich schließe das Buch«, sagte der Rabbi sanft. »Wenn ich dich nicht hätte daliegen sehen und sofort zwischen die Seiten gegangen wäre, wärst du verloren gewesen. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ich die Steine entfernt hätte, ohne zu bemerken, dass du zwischen den Seiten steckst. Das Buch hätte dich verschlungen und in eine Malerei verwandelt.«
Julias Augen weiteten sich, und auf ihren Armen stellten sich die Härchen auf, als wäre ihr kalt. Ein unbedachter Moment und sie wäre verschwunden gewesen. Dann dämmerte in ihr ein Gedanke. »Heißt das, die Bildnisse im Buch, die Malereien, waren einst … wirkliche Wesen, die das Buch … verschluckt hat?«
Rabbi Judah Löw lachte still in sich hinein. »Möglich,
Weitere Kostenlose Bücher