Haus der roten Dämonen
Kindchen, doch jetzt stör mich nicht. Ich muss das Buch schließen.«
Er ging auf die Handschrift zu, entfernte die Steine, griff entschlossen unter die hölzernen Deckel und schlug sie mit aller Kraft zusammen. Der Schwung dieser Bewegung ließ die mittlere Schnalle einrasten. Das Buch seufzte noch zweimal und durch den Buchblock liefen zwei gut sichtbare Wellen. Dann verriegelte Judah Löw die beiden letzten Schnallen und wuchtete die Handschrift ins Regal zurück.
»Und?«, bohrte Julia. »Was habt Ihr herausgefunden?« Obwohl ihr noch schwindlig war, siegte die Neugier.
Der Rabbi antwortete nicht sofort. Unendlich langsam bewegte sich sein Blick über den Tisch auf Julia zu.
»Ich fürchte, nichts Gutes«, begann der Rabbi. »Seit Jahrhunderten ist das Wissen um die Belebung lebloser Gegenstände verloren. Einst war es im Besitz meines Volkes, doch Überheblichkeit und unsachgemäßer Gebrauch haben das Wissen … wie soll ich es sagen … zusammen mit seinen Meistern vernichtet. Nur selten kommt es vor, dass jemand die Rezeptur entdeckt und auch anzuwenden versteht. Das gelingt nur alle paar Jahrhunderte einmal, und auch bloß deshalb, weil die Menschen, denen es gelingt, über eine besondere Gabe verfügen.«
Julia war den Ausführungen des Rabbi aufmerksam gefolgt. »Ihr glaubt, Messer Arcimboldo verfügt über diese Gabe?«
Der Rabbi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Dazu kenne ich seine Kunst zu wenig. Wir …«, er stockte, räusperte sich und fuhr dann fort, »… wir Juden kommen selten in die königlichen Gemächer. Ich spüre aber, dass eine Macht in dieser Stadt am Werk ist, ohne dass sie bemerkt wird.« Der Rabbi sprach immer leiser, und Julia musste sich vorbeugen, um ihn noch zu verstehen. Es war ihr, als würden die Kerzen, die dem Raum ein flackerndes Leben verliehen, immer weniger Licht geben und den Raum verdunkeln. »Die Chimäre aus dem Vladislav-Saal wird nicht die einzige Bedrohung bleiben. Eine schwarze Gewitterwand baut sich über der Stadt auf, als wollte das Dunkle den Glanz und den Reichtum Prags verschlingen.«
Julias Mund war trocken geworden und sie musste schlucken. Unwillkürlich dachte sie an den Kater unter dem Küchentisch. Der hatte eine Verletzung, die nicht von einem fremden Kater oder einer Katze stammen konnte. Sollte sie dem Rabbi davon erzählen? Lieber nicht. Später vielleicht, wenn sie sich sicher war, dass er sie nicht auslachte.
»Glaubt Ihr wirklich, das Tier sei nicht …«, Julia wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte, »… nicht echt gewesen?«
Judah Löw sah über sie weg. »Ich bin lange durch diese Welt gereist, mein Kind, niemals bin ich auf Chimären gestoßen, außer in bildlichen Darstellungen. Auf allen Erdteilen habe ich danach gesucht. Es gibt sie nicht. Glaub mir.«
»Und wo kommt sie dann her? Gehört sie Messer Arcimboldo? Das glaubt Ihr doch selbst nicht?« Julia dachte einen kurzen Augenblick nach. »Das Wesen hätte ihn längst gefressen!«
»Ich habe im Necronomicon nachgesehen. Nur wenige Dämonen sind in der Lage, den Meister zu töten, der sie erschaffen hat. Schließlich braucht es etwas, was die Wesen
am Leben erhält, nämlich Blut. Wer aus dem Blut seines Meisters erschaffen wurde, kann diesen nicht töten.«
Julia horchte auf. »Blut? Es braucht Blut?« Sofort tauchte vor ihr die Gestalt des Quacksalbers auf. Er hatte doch zu Messer Arcimboldo eine Verbindung. Sie straffte sich vor Erregung.
Der Rabbi nickte und deutete auf die Handschrift hinter sich, die jetzt friedlich und völlig unscheinbar im Regal stand. »Das Blut des Meisters. Jedenfalls steht es so im Buch.«
»Er braucht sein eigenes Blut?« Ein wenig enttäuscht sackte sie wieder in sich zusammen. Sie hatte sich bereits einen Schritt weiter geglaubt. Andererseits war sie durchaus nicht unzufrieden. Dann hatte Jan vielleicht nichts mit alledem zu tun.
Sie sah den Rücken des Necronomicon vor sich. Obwohl niemand es berührte, schien es im Regal zu wackeln, als würde es sich gegen seine Fesselung wehren.
»Was ist das genau für ein Buch? Es hat so einen merkwürdigen Namen«, wagte Julia zu fragen.
Der Rabbi runzelte die Stirn und öffnete den Mund zu einer Antwort, die Julia zu kennen glaubte.
»Ich weiß, ich bin ein Mädchen«, sagte sie, »und deshalb schon vom Wissen der Welt ausgeschlossen«, zischte sie den Rabbi an. »Das sagt man mir ständig, obwohl ich es für großen Unsinn halte. Bedenkt jedoch, ich habe Euch von der
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