Haus der roten Dämonen
Weg, den er zum anderen Ende der Gasse zurücklegen musste, erschien ihm außergewöhnlich lang zu sein. Jedenfalls hatte er ihn so ausgedehnt nicht in Erinnerung.
Er war noch ein zweites Mal hier gewesen. Da hatte er ein Mittel für Jerzy geholt, der schon seit Tagen nur Blut gespuckt und blutleer und erschöpft ausgesehen hatte. Einer der Alchemisten hatte ihm geduldig zugehört, dann einen Trank gebraut, ihn eingedickt und ihm für Jerzy mitgegeben. Geld hatte der Alchemist nicht verlangt – dafür hatte seine Arznei auch nicht geholfen. Jerzy hatte nicht nur gehustet, sondern sich zugleich die Seele aus dem Leib gekotzt, bis er das Mittel abgesetzt hatte. Nur seine robuste Natur hatte ihn davor bewahrt, ins Gras zu beißen.
Plötzlich blieb Jan stehen. Er war sich ziemlich sicher, an dem Gebäude, an dem er eben vorbeigelaufen war, schon einmal vorübergerannt zu sein. Außerdem erkannte er den Türgriff wieder: das Tier, dem der Schwanz aus dem Kopf wuchs. Fassungslos betrachtete er das Wesen. Das konnte doch nicht sein. Er wusste bestimmt, dass er immer nur in eine Richtung gelaufen war. Dennoch hatte er sich offenbar nicht von der Stelle bewegt. »Wie geht das zu?«, murmelte er vor sich hin.
Neben ihm kicherte es, als wäre die Erkenntnis, die in seinem Kopf gereift war und die er vor sich hin gesprochen hatte, zutiefst spaßig.
»’s’ängt mi’m Wollen z’s’mmen, Söhnchen!«, brabbelte es beinahe unverständlich. »Wer nich’ wi’lich fo’t will, bleibt einf’ch hie’. Wun’avoll.«
Jan schaute sich um. Die Stimme kam offenbar von überall her – und doch von nirgendwo, denn einen Sprecher
konnte er nicht entdecken. Er drehte sich um die eigene Achse, doch außer der Gasse und ihren Wohnbauten konnte er nichts und niemanden entdecken. Außerdem war der Sprecher beinahe unverständlich. Jan musste sich darauf konzentrieren, was der Mann sagte. Die Stimme zischte und schluckte, als fehlten im Mund des Sprechers so viele Zähne, wie er Buchstaben verschluckte.
»Du k’nnst m’ch nich’ seh’n. Ich bin … sozusagen … außerhalb deiner … nun ja … Wahrnehmung. Deine Augen beschäftigen sich mit den Gebäuden. Sie sehen nicht dahinter. Das ist die Eigenschaft der Augen. Sie lassen sich zu sehr vom Sichtbaren beeindrucken und ablenken. Die Welt enthält jedoch mehr als das Sichtbare, Söhnchen. Sie ist oft nur Fassade – und dahinter spielt sich ein eigener Kosmos ab.«
Jan verstand überhaupt nichts mehr. Das Gebrabbel strömte von überall her auf ihn ein. Er hatte beschlossen, einfach stehen zu bleiben, wo er stand.
»Ich werde dich erlösen. Ein solch dämliches Gesicht, wie du es gerade machst, ertrage ich nämlich nicht. Hier, meine Hand. Du musst nur zugreifen.«
Jan rührte sich nicht und eine Hand sah er ebenfalls nirgends.
»Ich bin hinter dir! Jetzt dreh dich schon um!«, befahl die Stimme. Jan drehte sich einmal um die eigene Achse und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sich ihm aus der Wand des Nebenhauses eine Hand mit Fingern entgegenstreckte, die mindestens drei Jahrhunderte auf dem Buckel hatte, so runzlig, knotig und voller Narben war sie.
»Warum sollte ich zugreifen?«, fragte Jan und musterte die Hand ausführlich. Am rechten Fingerring prangte ein blutroter Rubin, dessen goldene Fassung zu glühen schien. »Wer seid Ihr?«
»Viele Fragen«, konterte sein unsichtbares Gegenüber. »Wir sollten sie nicht hier draußen besprechen. Nimm meine Hand, Söhnchen!«
Jan hasste dieses Wort: Söhnchen! Vor allem wenn es wie Sö’nch’n ausgesprochen wurde. Mit einem kurzen »ö«.
»Wisst Ihr, wo ich den Alchemisten Gremlin finden kann? Mein Meister hat mich beauftragt, ihn zu finden und Arcanum splendidum …«
»Pssst!« Die heftig sich schüttelnde Hand unterbrach ihn. »Jetzt komm schon.«
Jan zögerte noch immer. »Warum sollte ich?«
Der Unsichtbare seufzte. »Ja is”s’enn die Mö’ich’eit? Als ich so jung war wie du, das ist gut hundert Jahre her, wenn nicht schon zweihundert oder gar noch länger, hätte ich sofort zugegriffen. Solche Chancen bekommt man nur einmal im Leben. Und du zögerst.«
Kaum hatte Jan verstanden, was der Alte da zahnlos vor sich hin gemurmelt hatte, als am Ende der Gasse ein seltsames Wesen sichtbar wurde.
»Was ist das denn?«, entfuhr es ihm, und er fühlte, wie alles Blut aus seinem Gesicht entwich. Was er da sah, konnte unmöglich sein. Er musste träumen oder sonstige Wahnvorstellungen haben. Womöglich
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