Haus der roten Dämonen
Jans Augen hatten sich mittlerweile an das Dämmerlicht zwischen den Häusern gewöhnt. Vor ihm versperrte der hohe Lattenzaun den Weg, hinter ihm standen der Riese und die Frau. Links und rechts ragten die Fachwerkhäuser der Spornergasse empor. Eine Flucht war unmöglich, es sei denn, er hätte fliegen können.
In Jans Kopf schossen die Gedanken wie Pfeile hin und her. Sollte er dem Kerl seine Geschichte schildern? Würde der ihm glauben? Wie viel Zorn war in dem Mann?
»Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt«, begann er zaghaft. »Ich komme aus dem Waisenhaus und bin erst seit zwei Tagen in Messer Arcimboldos Diensten. Gestern bin ich zum ersten Mal mit seinem Adlatus Contrario mitgegangen. Er scheint auch als Bader zu arbeiten und die Menschen zur Ader zu lassen. Mehr weiß ich nicht.«
»Halt’s Maul!«, kam die grobe Antwort zurück. »Dieser Bader hat beinahe meinen Bruder auf dem Gewissen. Er hat ihm Blut abgezapft, als gelte es, einen Weinschlauch zu leeren.«
Jetzt schob sich die Frau zwischen Jan und den Zwilling. Ihre Stimme klang sanfter, aber nicht weniger bestimmt. »Was hatte dieser Quacksalber vor?«
Jan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin erst seit wenigen Tagen in Messer Arcimboldos Diensten. Es waren meine ersten Krankenbesuche …«
»Dann will ich dir sagen, was der Bader vorhatte!«, knurrte der Zwilling und legte eine Hand auf die Schulter der Frau, als wolle er sie beschützen. »In der Nachbarschaft war er nämlich auch. Ein älterer Mann, ein Mesmer, wohnte dort mit seiner Frau. Grundgütig und wohl ins Fieber gefallen, weil er früh aufstand und die Kirche heizte, damit seine Gläubigen und der Herr Geistliche in der Kapelle nicht frieren mussten. Ein Tier hat ihn gebissen, als er Holz holte. Eine Schlange war’s, so hat er daherfantasiert. Jedenfalls bekam er rote Flecken auf der Brust, dann starben ihm die Finger ab, wurden weiß und eiskalt. In diesem Stadium ließ die Nachbarin den Bader kommen.«
»Was durchaus recht war«, murmelte Jan, der plötzlich wusste, worauf es hinauslaufen würde.
»Es war aber nicht recht, was der Mann tat«, herrschte ihn der Zwilling an. »Er kam und ließ den Alten zur Ader. Mehrmals. Und manchmal gab er ihm ein Medikament, es hieß irgendwie Lau… wasweißichwas. Und mit jedem Aderlass wurde er schwächer.«
Jan räusperte sich. Ihm wurde kalt. »Ein Laudanum. Er hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Gegen Schmerzen wohl oder gegen das Fieber.«
»Er hatte kein Fieber!«
Die Frau unterbrach den Zwilling. »Jakub, du musst erzählen, was geschehen ist. Alles, Jakub.«
Der Zwilling knurrte. »Der alte Mesmer wurde immer schwächer. Der Quacksalber nahm ihm dennoch Blut ab – und er schüttete es danach auf die Straße, wie es üblich war.« Der Zwilling atmete schwer aus. »Ich habe ihn dabei beobachtet, weil er nach dem Mesmer zu uns herübergekommen ist.« Er biss sich auf die Lippen, weil ihn die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, offenbar mitnahm.
»Weiter!«, ermunterte ihn Jan.
»Bevor ich Euch aus dem Zimmer geworfen habe, kamt ihr beiden von gegenüber. Nicht wahr? Der Quacksalber hatte dem alten Mann wieder Blut abgenommen. Doch statt es auf die Straße zu kippen, sammelte er es in einem … einem … Glas oder so etwas …«
»Phiole«, ergänzte Jan. Er kannte das Wort auch erst seit kurzer Zeit.
Der Zwilling nickte. »… und kaum eine Stunde später war der Mann tot. Mausetot. Wie ausgeblutet. Wie …«, er senkte die Stimme, als wäre das Wort, das er benutzte, allein durch seinen Klang gefährlich, »… geschächtet!«
Jan wusste sehr wohl, was das bedeutete, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen. Die jüdischen Metzger schnitten ihren Schlachttieren die Kehlen durch und ließen sie ausbluten. Das nannte man schächten. Doch mit den Juden hatte das, was Contrario-Buntfinger tat, nichts gemein. Er biss sich auf die Lippen. Man musste bei der Wahrheit bleiben. Und er hatte gesehen, wozu das Blut verwendet werden sollte. »Sie brauchen es, um daraus Farbe herzustellen. Rote Farbe.«
»Ach ja?« Der Zwilling packte Jan am Kragen, hob ihn in die Höhe und drückte ihn gegen die Wand. »Farbe also. Warum schüttet er dann das Blut zuvor auf die Straße? Wenn man Blut haben will, um Farbe daraus herzustellen, muss man die Menschen nicht umbringen.«
Jan zappelte und bekam kaum mehr Luft. Wenn Jakub ihn länger so gegen das Fachwerk drückte, würde er ersticken.
»Lass den Jungen
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