Haus der roten Dämonen
schnell. Er huschte nach vorn, beugte sich vor, griff zu – und im selben Augenblick schnellte eine Pranke aus dem Nebeldunst und hieb
das Regalbrett entzwei. Nur der Umstand, dass Jan auf dem festen Mauersims des Lichtschachts stand, rettete ihn davor, in die Tiefe gerissen zu werden. Die Kreatur brachte die gesamte Regalwand an dieser Stelle zum Einsturz und prasselte mit ihr in die Alchemistenküche hinab.
Jan hielt dennoch zwei der Gefäße in der Hand. Das dritte kippte mit dem Leu in die Suppe darunter. Der Aufprall des Wesens ließ die wabernde Suppe beiseitewehen und gab Jan den Blick auf den Magister frei. Der stand mit erhobenem Arm da und fing gerade den dritten Tiegel mit Arcanum splendidum auf, als hätte er geahnt, was passieren würde. Mit geübter Hand öffnete er das Gefäß, schüttete den Inhalt in seine Hand und verblies ihn in der Küche.
Der Leu reagierte schnell. Er hatte den Alchemisten entdeckt und schlug zu. Ein Hieb mit aufgestellten Krallen ließ die Küche regelrecht explodieren und schien den Alchemisten in Stücke zu reißen. Die Formen lösten sich auf, wehten gegen die noch stehenden Regale und die Überreste wurden schließlich unter unzähligen Tiegeln und Schüsseln begraben. Der Leu stand auf allen vieren sprungbereit da. Seine drei Köpfe suchten die Wände und den Boden nach seinen Opfern ab. Doch Jan war schon im Schacht verschwunden und kletterte hinauf zur Oberfläche, den wie leblosen Körper des Alchemisten noch vor Augen.
Nur ein Metallgitter, das auf den Schacht aufgelegt war und ihn nach oben abschloss, stellte sich noch zwischen ihn und die Oberfläche. Er drückte es auf, kletterte nach draußen und das letzte Licht des Tages zeigte ihm den Hirschgarten, nahe der Mauer. Buschwerk und Gestrüpp verbargen den Zugang. Sorgfältig legte er das Gitter an die richtige Stelle zurück. Gerade fiel die Dämmerung über die Moldaustadt herein wie ein wildes Tier. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er zitterte. Jan wollte sich so schnell wie möglich zu
Messer Arcimboldo aufmachen. Doch ein hoher, reiner Ton ließ ihn erstarren.
16
Etwas lebt
E in dreifaches Brüllen trieb durch die Nacht Prags, als käme es aus tiefsten Höllenschlünden, hallte von den Wänden des Burgbergs wider und jagte Julia aus dem Bett und ans Fenster. Einen solchen Dreiklang hatte sie noch niemals gehört. Er war bar jeder Natürlichkeit, als stamme er aus den Abgründen des Totenreiches und verkünde das Ende der Zeit.
Julia schob den Vorhang beiseite und hob das Brett aus der Verankerung, mit der sie das Fenster geschlossen hatte. Sie starrte hinein in eine sternenvolle Nacht ohne Mond. Doch sie sah nichts. Offenbar ging es wie ihr auch vielen anderen Bewohnern Prags, denn überall flammten Laternen und Lichter auf. Die Nacht wurde rasch von einer besonderen Art Glühwürmchen erleuchtet, die aufflammten und wieder erloschen, um erneut aufzuflammen. Sie hatte offenbar nicht geträumt, denn die Zahl der Nachtlichter nahm rapide zu. Spätestens jetzt hätten die Rufe der Nachtwächter erschallen müssen, die dringend dazu aufforderten, Feuer und Licht zum Schutze aller Stadtbewohner zu löschen. Doch die Rufe blieben aus. Die Stadt war erwacht und zitterte vor dem, was sie vernommen hatte.
Julia wollte gerade wieder zu Bett gehen, denn je länger sie mit ihren Blicken die Nacht durchforstete, desto sicherer glaubte sie, sich getäuscht und nur schlecht geträumt zu haben.
Doch dann hob das gleichzeitige Brüllen aus drei Kehlen erneut an. So stark und mit einer solchen Gewalt, dass sich ihr nicht nur die Haare auf den Armen und im Nacken aufstellten. Ein Zittern durchlief ihren Körper, das nicht von der Kälte kam und das sie nicht zu beherrschen vermochte. Begleitet wurde das Gebrüll vom Schrei eines getriebenen und zu Tode gehetzten Menschen. Abrupt brachen beide Laute ab, was viel schrecklicher wirkte, als wenn das unbekannte Wesen noch eine Zeit weitergetobt hätte. Die Kreatur hatte ein Opfer gefunden.
Julia dachte sofort an Rabbi Löw. Hatte der Jude nicht gesagt, die Chimäre werde nicht das einzige Wesen bleiben? Eine schwarze Gewitterwand baue sich über der Stadt auf? Ihre zitternde Hand sagte ihr, dass es genau das gewesen sein musste, was sie eben erlebt hatte.
Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Plötzlich war ihr eiskalt geworden und ein wenig übel. Julia schlüpfte zurück ins Bett und deckte sich zu. Das Gras, mit dem die Decke gefüllt war, duftete frisch.
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