Haus der Schatten (Unheimlicher Roman/Romantic Thriller) (German Edition)
"...keine Ruhe..." kam es dumpf an ihr Ohr. Die Worte schienen keinerlei Ursprung zu haben. Die Stimme schien von allen Seiten mehr oder weniger gleichmäßig zu kommen.
Dann war Francines Belastbarkeitsgrenze überschritten.
"Mein Gott!", keuchte sie.
Sie hielt sich verzweifelt die Ohren zu. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Werde ich wahnsinnig?, durchzuckte es sie wie ein greller Blitz. Es war im Grunde schon gar keine wirkliche Frage mehr für sie, sondern ein furchtbarer Verdacht, der in ihr Gestalt angenommen hatte. Es ist unmöglich!, sagte sie sich immer wieder. Sie hatte ihren Vater tot gesehen, ein Arzt hatte seinen Tod bestätigt und die Polizei würde alles haarklein in ihren Berichten auflisten. Und dann kam ihr die Legende in den Sinn, die sie über ihre Familie gehört hatte. Die Legende von der Hexe und ihrem Fluch, der alle Nachkommen von Malcolm H. Baily traf und verhinderte, dass ihre Seelen nach dem Tod Ruhe fanden... Sie erinnerte sich genau. Ein Schulmädchen von acht Jahren war sie gewesen, als sie die Legende von Klassenkameradinnen erzählt bekommen hatte, die sie wiederum von Großmüttern gehört hatten. Damals hatte sie große Angst gehabt, schließlich war auch sie eine Baily. Sie war zu ihrem Vater gelaufen und der hatte sie zu beruhigen gewusst.
"Das ist nichts als hinterwäldlerischer Aberglauben!", hatte ihr Vater gesagt und bis jetzt war sie derselben Ansicht gewesen.
"Nein!", rief sie laut "Ich halte es nicht mehr aus!"
Und dann lief sie hinaus auf den Flur.
Sie atmete tief durch.
Die Stimme ihres toten Vaters war verstummt. Sie fühlte, wie sie sich nach und nach beruhigte. Ihr Atem wurde langsamer und gleichmäßiger, der Puls, der ihr gerade noch bis zum Hals geschlagen hatte, wurde jetzt ruhiger. Es müssen die Nerven sein!, dachte sie.
Vielleicht war das alles einfach zu viel für mich! Einen Moment noch stand sie in dem kühlen, zugigen Flur. Zunächst scheute sie instinktiv davor zurück, in ihr Zimmer zurückzukehren. Du musst wieder zu Verstand kommen!, sagte sich selbst und gab ihrem Inneren einen Ruck. Wenn du in dein Zimmer zurückkehrst, wirst du sehen, dass es keine Totenstimme gibt!, redete sie sich ein. Und so trat sie in ihr Zimmer. Sie sah sich um, als glaubte sie, dass dort etwas zu sehen sein müsse. Von der dumpfen Stimme war nichts mehr zu hören. Francine schloss die Tür hinter sich und atmete hörbar aus. Alles ist wieder gut!, dachte sie, als sie sich ins Bett legte. Das, was sie jetzt am dringendsten brauchte, war sicherlich Schlaf.
*
Als Francine am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich zerschlagen und wie gerädert. Sie war die ganze Nacht über nicht richtig zur Ruhe gekommen. Als sie aufstand, um sich anzuziehen, fiel ihr die Stimme wieder ein und die Erinnerung genügte, um ihr einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Aber es war wie eine Erinnerung aus sehr ferner Zeit oder aus einem Traum... Ich kann noch nicht einmal mit jemandem darüber reden, schoss es ihr durch den Kopf.
Man würde sie unweigerlich für verrückt halten.
Es deuteten schon genug Hinweise im Mordfall Jeffrey J. Baily in ihre Richtung. Wenn jetzt noch jemand erfuhr, dass sie des Nachts Stimmen von Toten hörte - was würde man dann noch auf ihre Aussagen geben? Nein, dachte sie. Das darf nicht passieren. Sie musste ihr seltsames Erlebnis, das sie noch nicht so recht einzuordnen wusste, für sich behalten. Eine andere Chance hatte sie nicht, denn sonst konnte sie nur noch auf mildernde Umstände wegen Schuldunfähigkeit hoffen. Doch das wollte sie nicht. Sie war unschuldig. Sie wusste ja schließlich, dass sie ihren Dad nicht umgebracht hatte - und dazu auch gar nicht fähig gewesen wäre.
Dann schluckte sie plötzlich. Sie spürte namenlose Furcht in sich aufsteigen. Weiß ich es wirklich?, ging es ihr durch den Kopf. Was, wenn sie tatsächlich verrückt war? War es dann nicht auch möglich, dass sie ihren Dad umgebracht hatte und sich jetzt nicht mehr daran erinnerte? Nein! Nein!, rief es in ihr. Sie wagte es nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Er war einfach zu furchtbar.
*
Im Laufe des Vormittags tauchte Harris wieder auf, diesmal allerdings ohne den Tross von Beamten, der ihn am Abend zuvor noch begleitet hatte. Als Harris eintraf, saßen sie alle zusammen beim Frühstück im Esszimmer, das von Miss Gormley hergerichtet worden war: Die beiden Randolphs, Francine und Mr. Lamont, der über Nacht im Haus der Bailys geschlafen
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