Haus der Sünde
Sammlung von Kleidung, die ihm von Gerald zur Verfügung stand, offensichtlich das ausgesucht, was ihm am besten stand. Das aber erschwerte es Claudia noch, nicht ständig zu ihm hinzusehen: ein locker geschnittener, heller Sommeranzug, den ihr verstorbener Mann nur einmal getragen hatte, weil er sich darin ein wenig zu alt gefühlt hatte. Dazu trug Paul ein weißes, kragenloses Seidenhemd und beige Slipper. Mit seinen ungebändigten Haaren, den intensiven Augen und der blassen Haut wirkte er wie ein moderner Messias, der auch einem Modemagazin entstiegen sein konnte. Claudia schämte sich, welche Wirkung seine Schönheit immer wieder auf sie hatte. Sie fühlte sich schwach und verantwortungslos, denn am liebsten wäre sie schon wieder mit ihm ins Bett gestiegen und hätte die Klinik und alles, was dazugehörte, einfach vergessen.
»Paul!«, sagte sie. Er sah sie ein wenig verträumt und geistesabwesend an. Entschlossen beugte sie sich über ihn, fasste nach dem Gurt und zog ihn zu sich heran. Ihre Finger zitterten, sodass sie mit der Schnalle für einen Moment Probleme hatte. Ihre Hände befanden sich viel zu nahe an seinem Schoß. Wie sollte sie sich da auf etwas so Sachliches wie einen Gurt oder eine Schnalle konzentrieren …
»Oh, sorry«, sagte er, als sie bereits den Motor anließ. Mit einer Ruhe und Sicherheit, die sie selbst erstaunte, fuhr sie aus der Auffahrt auf die Straße und wandte sich dann nördlich in Richtung Oxford.
»Ich war ganz woanders«, fuhr er fort und schaute sich erneut im Inneren des Wagens um. »Ich glaube -«
»Erinnerst du dich noch an mehr?«
»Ja, aber es sind nur sehr vereinzelte Erinnerungen. Die meisten haben mit diesem Auto zu tun … oder meinem
Auto … Und mit Dingen, die damit in Verbindung stehen.« Ohne vorher zu fragen, öffnete er das Handschuhfach, als wollte er darin nach Hinweisen suchen. Die zusammengefalteten Karten, die sich darin befanden, halfen ihm aber offensichtlich nicht weiter. »Dieses Auto ist wunderbar gepflegt«, sagte er und lächelte dann wehmütig, als müsste er an etwas Melancholisches denken. »Der Wagen, an den ich mich erinnere, war im Vergleich dazu ein richtiger Schrotthaufen.«
»Wahrscheinlich hattest du ihn, als du noch ziemlich jung warst. Als du vielleicht noch nicht viel Geld hattest.« Das schien irgendwie logisch zu sein.
»Ja, kann schon sein«, sagte Paul, schloss die Augen und strich mit dem Finger über seine Schläfe – genau unter der rasch verheilenden Wunde.
Nachdem sie nun auf offener Landstraße fuhren und sich kein nennenswerter Verkehr vor oder hinter ihnen befand, gestattete sich Claudia, sich Paul in jüngeren Jahren vorzustellen. Viel jünger als er jetzt war, als Teenager oder vielleicht Anfang Zwanzig. Hatte er damals noch attraktiver ausgesehen? Oder halfen die Jahre, ihn nun markanter zu machen? Auf jeden Fall war sie überzeugt, dass er höchst ungewöhnlich ausgesehen haben musste.
Ohne etwas dagegen tun zu können, stellte sie sich den jungen Paul mit einer Frau vor. Einem Mädchen – ganz bestimmt sehr hübsch, makellos und knackig. Schlank wie eine Gerte und doch sexy mit einer wahren Flut an dunklen, wilden Locken. Im Bett würde sich ein solches Mädchen mit seinem perfekten Körper gegen Paul drängen und mit der Lebendigkeit und der Energie der Jugend auf all seine Verführungen reagieren. Und er würde bestimmt in sie gefahren sein, vor Lust aufschreiend, und sie immer wieder dazu gebracht haben, sich mit ihm zu vereinen – auf jene Art und Weise, wie das nur ganz junge Menschen taten.
»Claudia! Du fährst ziemlich schnell!«
Pauls Stimme, die nicht scharf, aber hörbar besorgt klang, ließ das Bild von zuckenden Gliedern und geschmeidigen, pumpenden Körpern zersplittern. Claudia erschrak und konzentrierte sich. Rasch bremste sie ab und schaltete einen Gang niedriger.
»Sorry«, sagte sie und achtete nun mehr auf die Straße. »Ich habe versucht, schnell voranzukommen. Vielleicht könnten wir noch irgendwo anhalten, um vorher einen Bissen zu uns zu nehmen. Ich kenne ein hübsches Lokal, nicht weit von der Klinik. Vielleicht lenkt dich das von den bevorstehenden Untersuchungen ab.«
Es war ein vager Gedanke in ihrem Hinterkopf gewesen, doch nachdem sie ihn nun laut ausgesprochen hatte, kam er ihr sehr vernünftig vor. Einen Happen zu essen und dazu vielleicht eine gute Tasse Kaffee? Sie wollte alles tun, um endlich nicht mehr ständig von ihrer Fantasie überwältigt zu werden.
Paul dachte
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