Haus der Sünde
besorgt aus. Er schien seiner Erinnerung kaum glauben zu können. »Aber es ist ganz schön verrückt. Ich kann
mir kaum vorstellen, dass es mir tatsächlich passiert ist. Aber irgendwie weiß ich, dass es der Wahrheit entspricht. Keine Ahnung, warum.«
»Paul!«
»Du wirst vielleicht schockiert sein.«
»Ich warne dich!«
»Vielleicht bist du angewidert.«
»Das lass nur meine Sorge sein. Jetzt rede endlich! Los, mach schon!«
»Okay«, sagte er, hob ihre Hand zu seinen Lippen und küsste sie auf einen der Fingerknöchel. Claudia spürte, wie sich die Augen der drei Mädchen in sie bohrten. »Aber es ist wirklich etwas komisch. Es kommt mir so vor, als hätte ich nur eine einzelne Filmrolle wiedergefunden. Ich kann mich jetzt an diese Episode genau erinnern. Und das mit größter Klarheit. Aber an nichts anderes – weder davor noch danach. Ist das nicht seltsam?«
Claudia hielt sich zurück, obwohl sie ihn am liebsten energisch dazu aufgefordert hätte, endlich zu erzählen. Sie platzte beinahe vor Neugier, während sie gebannt wartete und zusah, wie er einen großen Schluck Mineralwasser zu sich nahm.
Dann begann er zu erzählen. Seine sonore Stimme klang sehr weich und intim.
»Ich bin mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Mit einem Freund. Es muss schon einige Zeit her sein, denn wir waren beide ziemlich jung. Und hatten kaum Geld.« Er zögerte, seine blauen Augen blickten verträumt in die Ferne. »Der Jaguar war so klapprig, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass wir damit vorankamen. Und das Cottage, in dem wir wohnten, war eine echte Bruchbude. Aber das war alles ganz unwichtig...« Der verträumte Blick strahlte nun Wärme und Melancholie aus. Claudia war ganz berührt davon, denn so hatte sie Paul bisher noch nicht erlebt. »Wir waren
so erleichtert, endlich die Stadt zu verlassen, dass wir beinahe hysterisch wurden.«
In Claudia tauchte eine ganze Reihe von Fragen auf, die sie am liebsten gleich gestellt hätte. Doch sie hielt sich zurück. Sie war schon sehr gespannt darauf, wie die Geschichte wohl weiterging und fühlte sich bereits mehr als nur ein wenig eifersüchtig.
»Das Wetter war schrecklich, in der ersten Nacht gab es einen wahnsinnigen Sturm.« Er warf Claudia einen Blick zu und lächelte bedeutungsschwer. Offenbar hatte es schon mehrere Situationen in seinem Leben gegeben, in denen Sturm und Drang eine wichtige Rolle gespielt hatten. »Wir hatten beide ziemlich viel Angst, vor allem, weil uns jemand im Wirtshaus des Dorfes erzählt hatte, dass nachts ein mörderischer Wilderer durch die Gegend streiche. Zuerst lagen wir in zwei verschiedenen Schlafzimmern. Bis dahin war nie irgendetwas zwischen uns gewesen …«
Jetzt wird es spannend, dachte Claudia und wünschte sich erneut, ein Glas Wein vor sich stehen zu haben.
»Aber als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte, ist Vivian in mein Zimmer gekommen und hat sich zu mir ins Bett gelegt.«
Claudia konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie hatte zwar gedacht, dass es sich um einen Freund handelte, aber vielleicht hatte sie etwas falsch verstanden. »Wie sah sie denn aus? Vermutlich sehr hübsch.«
»Eher markant als hübsch, würde ich sagen«, erwiderte Paul, dessen Stimme nun etwas vage klang. Als Claudia ihn ansah, bemerkte sie, wie er versuchte, nicht loszuprusten. »Er war eins neunzig, seine Haare wurden bereits dünn, und er war der schlankeste Mann, den ich je gesehen habe. Aber trotzdem war Vivian wirklich attraktiv.«
»Ein Mann!«
»Ja, ein Mann – sagte ich doch«, erwiderte Paul und zuckte die Achseln. »Vivian und nicht Vivienne.« Er sprach die beiden Namen betont verschieden aus. »Ich habe dich doch gewarnt, dass es dich schockieren könnte.«
Claudia griff nach dem Glas Wasser und trank ohne nachzudenken. Sie musste Zeit gewinnen. Innerlich jedoch versuchte sie herauszufinden, ob sie tatsächlich über Paul und seine früheren Affären schockiert war. Stieß es sie vielleicht sogar ab? War sie nun wirklich eifersüchtig, weil sich Vivian als Mann herausstellte?
Nein, sie war nicht schockiert und kein bisschen abgestoßen. Und eifersüchtig? Vielleicht ein wenig, aber nicht so schlimm, wie sie angenommen hatte.
»Wow«, murmelte sie und versuchte so gelassen wie möglich zu wirken, als die Bedienung an ihren Tisch trat.
Paul schien sehr belustigt, während ihnen das Essen serviert wurde. Es war offensichtlich, dass die Kellnerin, eine vollbusige Frau jenseits der Fünfzig, von Paul ganz angetan war. Sie
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