Haus des Blutes
Ort, an dem er sein möchte, ist noch näher an Giselle oder dem Altar. Aber er setzt seine Annäherung mit grauenvoll entschlossenen Schritten fort. In seiner Hand befindet sich ... ein dickes, in Leder gebundenes Buch. Bisher war er sich dessen nicht bewusst, aber es ist da.
Ein Bild blitzt in seinem Kopf auf. Giselle, nackt. Wie sie über ihm steht.
Wie sie auf ihm steht.
Er wünscht sich sehr, sehr weit weg von dieser sadistischen Schlampe, aber er ist hier und steigt die Stufen zum Altar hinauf, wendet sein Gesicht den Anwesenden zu, schlägt das Buch auf und beginnt, die Zeilen vorzulesen, die in einer Sprache geschrieben sind, die ihm gänzlich unbekannt ist.
Nur dass er sie nun doch erkennt. Worte, vom Wahnsinn angeschwollen, entweichen aus seinem Mund. In monotoner Wiederholung. Rhythmisch. Ketten seltsamer Floskeln reihen sich aneinander wie Strophen eines Liedes. Es ist ein feierlicher Gesang. Eine Beschwörung. Der Träumende spricht die Worte mit einer routinierten Vertrautheit, als hätte er sie schon viele Male proklamiert. Eine Möglichkeit kommt ihm in den Sinn, ein Gedanke, in dem genügend unerwartete Hoffnung steckt, um seinem Körper ein überraschtes Grunzen zu entlocken.
Was er hier miterlebt, ist real. Oder zumindest sehr nahe an der Realität. Er vermutet, dass sich die Übertreibungen, die sein eigener Verstand hinzufügt, auf ein Minimum beschränken. Kleine Ausschmückungen. Trotzdem ist er inzwischen davon überzeugt, dass er sich nicht wirklich in dem von Kerzenschein erhellten Saal befindet. Er ist vielmehr ein Besucher im Kopf eines anderen, ein unsichtbarer Voyeur.
Sein Wirt, dieses empfindsame Bindeglied zwischen eigenem Hirn im Tiefschlaf und diesem seltsamen Ort, ist sich seiner Anwesenheit nicht bewusst. Er hat einen Teil des Wissensspeichers dieser Person angezapft, daher beherrscht er auch die fremde Sprache. Aber es klaffen Lücken in der Verflechtung der beiden Geister, Stellen, an denen die Synapsen nicht richtig ineinandergreifen. Der Träumende weiß, dass der Wirtskörper ein Mann sein muss. Er weiß, dass dieser einst ein ganz normales Leben in der Welt außerhalb des Reichs des Meisters geführt hat. All das hat vor mehr als sieben Jahren ein Ende gefunden.
Und das ist alles, was der Träumende über seinen Wirt weiß.
Er hört auf, vorzulesen. Das Buch klappt zu. Im Raum breitet sich erneut völlige Stille aus. Eine weitere Phase des Rituals ist abgeschlossen.
Nun steht nur noch eine letzte Phase bevor.
Giselle packt den gefesselten Mann mit einer Hand unter dem Kinn und zwingt ihn, den Mund zu öffnen. Die andere Hand, in der sie das Messer hält, bewegt sich mit geübter Entschlossenheit auf die klaffende Öffnung zu. Flüssigkeit trieft aus den Augenwinkeln des Mannes, der dem Tode geweiht ist. Er weint hilflose Tränen. Den Träumenden durchfährt eine Wutattacke, die beinahe – aber nicht ganz – das Entsetzen überdeckt, das er empfindet. Das alles ist einfach nicht richtig. Das Ganze ist eine verfluchte Farce. So etwas sollte in einer modernen Welt nicht passieren. Aber, hey, das hier ist nicht wirklich Teil dieser Welt, oder? Die Gesellschaft, auch wenn sie den Mächten des Chaos und der Gewalt unterstehen mag, ist eine Welt, die einen gewissen Grad der Zivilisation erlangt hat. Der Aufklärung. Etwas so Entsetzliches würde dort niemals geschehen …
Hier hingegen …
Giselle lässt das Messer mit derselben gelassenen Präzision in den Mund des Mannes hineingleiten. Sein Körper zuckt, als etwas in seinem Mund unter dem Druck der Klinge nachgibt. Er verspürt Schmerzen, definitiv, gewaltige Schmerzen. Wie alle anderen fühlenden Wesen ist auch er nach wie vor ein Gefangener der Sensibilität seiner Nervenenden. Er unternimmt den verzweifelten Versuch, seinen Mund um die Klinge zu schließen, damit er ihr Eindringen aufhalten kann, aber Giselle umklammert seinen Kiefer nur umso fester. Sie bewegt die Klinge immer wieder vor und zurück, während üppige Blutfontänen aus dem Mund des Mannes spritzen. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck entzückter Konzentration, während der Dolch sein unerbittliches Werk fortsetzt.
Giselles Augen leuchten vor beinahe orgiastischem Vergnügen, als sie jäh aufspringt und das blutbefleckte Messer hoch über ihren Kopf streckt. An seiner Spitze, unter der dichten Blutschicht kaum zu erkennen, ist ein Stück Fleisch aufgespießt. Der verstümmelte Mann auf dem Altar hat sich auf die Seite gerollt und spuckt Blut. Er
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