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Haus des Blutes

Haus des Blutes

Titel: Haus des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bryan Smith
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Sterbens des Fremden zu werden. Zeugen sind ein wichtiger Bestandteil des Rituals. Er ist sich nicht sicher, woher er das weiß, aber es ist eine Tatsache, ebenso unveränderlich wie die Gezeiten. Er kann ihre Gesichter nicht erkennen und keiner von ihnen sagt etwas. Sie scheinen zu warten. Es ist eine andächtige Stille, eine Ruhe feierlicher Vorfreude.
    Sie warten.
    Und warten.
    Der Träumende zwingt seinen schlafenden Körper mit schierer Willenskraft dazu, die Augen zu öffnen. Seine Konzentration ist so fokussiert, dass die Klarheit der Szene in seinem Kopf ein klein wenig verschwindet, wie mit Weichzeichner nachbehandelt. Seine Augenlider flattern. Einmal. Dann wird die Szene wieder scharf. Er erlebt einen Moment der unendlichen Verzweiflung und Frustration. Dann fallen die stummen Zeugen wie ein Mann auf die Knie.
    Der Träumende kniet sich im selben Augenblick nieder, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hat, woher er den exakten Moment des Niederkniens kennt. Aber derselbe geheimnisvolle Impuls führt dazu, dass er kurz darauf seinen Kopf neigt. Seine Mitanbeter tun es ihm gleich. Das Gefühl der Erwartung spürt er noch immer, allerdings deutlich intensiver, und sie halten kollektiv den Atem an.
    Schritte.
    Jemand hat den Raum betreten. Eine Autoritätsperson. Die Schritte kommen näher. Es ist das Geräusch von Stiefeln, die über den Holzboden stampfen, und irgendetwas daran wirkt eigenartig auf ihn. Der Träumende beginnt zu zittern und spürt dieselben Symptome, die eine Erkältung ankündigen: Kopfschmerzen und eiskalte Schauer, ein wundes Kratzen im Hals. Das Klippklapp der Stiefel fühlt sich wie ein Hämmern in seinem Kopf an, als die Person die wenigen Stufen zum Altar erklimmt, stehen bleibt und sich umdreht, um die kleine Menschenmenge anzusehen. Die Anbetenden, wenn es das ist, was sie sind, blicken auf.
    Der Träumende zittert erneut.
    Sie ist es. Giselle. Seine Peinigerin. Die grauenvolle, stumme Frau, die ihn gefesselt und gefoltert hat. Das Kerzenlicht scheint mit einem Mal heller zu leuchten. Nein, wird dem Träumenden bewusst, es ist nicht nur eine Frage der Sinneswahrnehmung. Das Licht ist tatsächlich strahlender geworden. Giselle hat es kraft ihres Willens dazu gebracht. Sie ist zu solchen Dingen fähig. Magischen Dingen. Sie ist zwar nicht ganz so versiert darin wie der Mann, der sie unterrichtet hat, der Meister, aber man darf sie trotzdem nicht unterschätzen. Diese Erkenntnisse sind in seinem Kopf bereits vollständig ausgeprägt, komplett aus dem Nichts erschienen wie Dateien, die per USB-Stick auf die Festplatte eines Laptops verschoben werden.
    Giselle sieht schöner aus als je zuvor. Sie trägt einen knöchellangen dunklen Rock zu passenden Stiefeln und einem bordeauxroten Top, das ihre Arme und ihre Brüste in atemberaubender Weise enthüllt. Ihr langes schwarzes Haar ist zusammengebunden und an ihren zarten Ohrläppchen baumeln goldene Kreolen. Das Licht der Kerzen scheint ihre Porzellanhaut zu lecken. Ihre Augen funkeln mit der rohen Kraft der Schwarzen Magie. Sie ist die atemberaubendste Frau, die er jemals gesehen hat.
    Sie lächelt.
    Und streckt eine Hand aus.
    Eine Person im vorderen Bereich der Menge erhebt sich, holt irgendetwas aus den Falten ihrer Robe hervor, etwas, das im Lichtschein funkelt, und geht mit bis zu den Knien herabgebeugtem Kopf zum Altar. Sie bietet den glänzenden Gegenstand dar. Giselle nimmt ihn entgegen und die in eine Robe gewandete Frau geht wieder auf die Knie. Giselles Blick streift jeden Einzelnen der Anwesenden im Raum, einen nach dem anderen, aber er scheint länger auf dem blassen Gesicht des Träumenden zu verweilen.
    Der Träumende schluckt schwer.
    Giselles Lächeln wird breiter. Der Gegenstand in ihrer Hand ist eine Klinge aus geschärftem Stahl. Ein Messer mit aufwendig verziertem Griff. Ein zeremonieller Dolch. Sie wendet sich von der Menge ab. Der Träumende kann ihre schlanke Figur nun im Profil sehen. Sie geht zu dem gefesselten Mann hinüber und hockt sich neben ihn. Sie führt die Klinge an ihre Lippen und küsst sie. All das ist Teil des Rituals. Der Träumende weiß das, aber der Sinn des Rituals ist ihm nicht bekannt – fehlt diese Information auf dem Speicherstick?
    Die nächste Phase des Rituals wird eingeläutet, als ein weiteres Mitglied der Menge – tatsächlich ist es der Träumende selbst – aufsteht und sich dem Altar nähert. Angst und Entsetzen breiten sich in ihm aus wie ein rasch wirkendes Gift. Der letzte

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