Haus des Blutes
droht daran zu ersticken. Jemand sollte ihm helfen.
Jemand …
Nein, lass es besser bleiben!, ermahnt sich der Träumende.
Sein Wirt bewegt sich auf den gefesselten Mann zu. Einen Augenblick später kniet er neben ihm. Er hat das Buch beiseitegelegt und greift in seine Robe. Seine Hand – die Hand seines Wirtes, wie er sich selbst erinnern muss – schließt sich um kaltes Metall. Ein Messer. Die Klinge dringt in sein Sichtfeld ein, und dies hier ist definitiv keine zeremonielle Waffe. Es sind 15 Zentimeter verbeulten, aber extrem scharfen Stahls. Es ist das Messer eines Arbeiters. Das Messer eines Mörders.
Die Hand des Wirtskörpers streckt sich nach hinten. Dann saust die Klinge in erbarmungslosem Bogen herab. Der Mann auf dem Altar stirbt, seine Kehle mit atemberaubender Präzision von einem Ohr zum anderen durchtrennt.
Er entfernt sich ein Stück vom Leichnam, hält das tropfende Ende des Messers von seiner Robe weg, und Giselle rückt wieder in den Mittelpunkt des Geschehens. Sie lässt ihrerseits den Dolch sinken, schüttelt das blutige Stückchen Fleisch ab und lässt es in ihren Mund fallen.
Ich werde ohnmächtig, denkt der Träumende absurderweise.
Die Zunge des Toten verschwindet in ihrem Mund. Sie schluckt sie in einem Stück hinunter. Einen Augenblick lang sieht der Träumende einen Klumpen in ihrem schlanken Hals, dann ist er verschwunden, wie der Körper einer Maus, der den Schlund einer Schlange entlanggleitet. Etwas in der Atmosphäre des Raums hat sich verändert. Es erinnert den Träumenden daran, wie es sich unter freiem Himmel anfühlt, kurz bevor der Sturm losbricht.
Giselles Nasenlöcher blähen sich auf und plötzlich wird ihr ganzer Körper stocksteif. Die Muskeln in ihren Armen und in ihrem Hals spannen sich an, wie die eines zum Tode verurteilten Gefangenen, dem der erste Elektroschock verpasst wird. Ihre pulsierenden Venen sehen aus, als würden sie jeden Moment platzen. Ihre Augen funkeln in leuchtendem Gelb und verfärben sich dann rot, bevor sie wieder ihre normale braune Färbung annehmen. Ein mächtiger Seufzer dringt aus ihrem Mund und ihr Körper kehrt wieder in seine normale Haltung zurück. Die seltsame Macht, die von ihr Besitz ergriffen hat, ist verschwunden – zumindest ihre sichtbaren Anzeichen –, aber Giselles Wangen schimmern in rosigem Glanz. Und auch die beinahe erotische Erregung hängt nach wie vor in der Luft.
Sie sieht erneut zum Träumenden hinüber.
Zu seinem Wirt.
Sie öffnet den Mund …
Dann verschwindet die Szene vor seinen Augen, wie der Glanz einer Münze, die einen Brunnenschacht hinunterfällt, und schrumpft auf Nadelkopfgröße zusammen, bevor endgültig nichts mehr zu sehen ist. Es folgt eine Phase völliger Finsternis und im nächsten Augenblick wird der Träumende in seinen eigenen Körper zurückkatapultiert.
Er reißt die Augen weit auf, als er erwacht.
Er sitzt aufrecht im Bett und atmet heftig.
Mein Name ist Eddie, denkt er.
Eddie, Eddie, Eddie.
Und ich bin kein Mörder.
Eddie sah sich hektisch nach einem Anzeichen für Giselles Anwesenheit im Zimmer um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Das waren die besten Neuigkeiten, seit, ach, überhaupt jemals. Er hätte sich lieber immer wieder mit einem Baseballschläger in die Eier hauen lassen, als dieser furchteinflößenden Schlampe noch einmal zu begegnen. Bilder aus seinem Traum stürmten auf ihn ein, unzusammenhängend zwar, aber unvermindert lebhaft.
Der rationale Teil seines Verstands begann sofort mit der unvermeidlichen Analyse der Geschehnisse. Das alles war unmöglich real gewesen. Eddie konnte sich auf gar keinen Fall im Kopf eines anderen Menschen befunden haben. Eddie, mahnte ihn die Stimme der Vernunft, lediglich ein Verrückter würde so etwas glauben.
Er ließ die Stimme der Vernunft wissen, dass sie ihn am Arsch lecken könne, weil er ihr das absolut nicht abkaufte.
Es war wirklich passiert.
Er hatte es sich nicht eingebildet.
Nur wusste er nicht, was dahintersteckte.
Er hatte keine Ahnung, welchen Zweck die Zeremonie, an der er beteiligt gewesen war, erfüllte. Zugleich verspürte er nicht das geringste Interesse, es herauszufinden. Er wusste, dass eine vollkommen irrwitzige Art von Schwarzer Magie im Zentrum des Geschehens gestanden hatte, und er wusste auch, dass er so schnell wie möglich eine möglichst große Entfernung zwischen sich und ihre Jünger bringen wollte.
Er schwang die Beine über die Bettkante, fand seine Jeans auf dem Boden und zog sie an.
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