Haus des Glücks
niederzulassen. Und während wir glaubten, vor unseren Gläubigern zu fliehen, hat Gott uns die ganze Zeit mit weiser und sicherer Hand hierhergeführt, an diesen Ort voller Schönheit, zu diesen Menschen, in dieses Haus. Ich sehe es in den Farben, die mich umgeben. Ich spüre es im feinen weißen Sand unter meinen Füßen. Ich rieche es in den unbekannten Düften Tausender Blumen, die es noch zu entdecken gilt. Ich höre es in den Gesängen der fremdartigen Vögel. Ich schmecke das türkisblaue Meer im Wind. Ich bin angekommen. Daheim. Zu Hause im »Haus des Glücks«.
16
Frühjahr 1892
D er Schmerz kam in Wellen. Er war heftig, bohrend, ziehend und stechend zugleich, umklammerte ihren Leib, stach in die Hüftgelenke und ließ sie glauben, ihre Wirbelsäule stünde kurz davor zu bersten. Victoria stöhnte, das Haar klebte in feuchten Strähnen an ihrer Stirn. Am liebsten hätte sie laut geschrien, so laut, dass es jeder Mann und jede Frau in Apia hören konnte. Doch sie hörte im Geist die Stimme ihrer Mutter:
Eine wohlerzogene Dame aus gutem Hause tut so etwas nicht. Eine Dame leidet still.
Sie biss sich auf die Lippe, der Schmerz raubte ihr den Atem. Irgendwo im Haus war John. Doktor von Kolle hatte ihn hinausgeschickt, jetzt konnte sie seine nervösen Schritte vor der Schlafzimmertür hören. Aber Lotte war bei ihr. Sie hielt Victorias Hand, streichelte sie und wusch ihr Gesicht mit frischem klarem Wasser ab. Sie sang. Leise. In ihrer Sprache, die so sehr dem Plätschern des Regens und dem Rauschen der Wellen glich. Es war eine schlichte Melodie, die Worte wiederholten sich immer und immer wieder. Doch es beruhigte. Der Schmerz ließ ein wenig nach, sie entspannte sich. Sie schlug die Augen auf und sah Lotte lächeln.
»Geduld, Victoria. Bald hast du es geschafft.«
Sie hatte gut reden. Nach der Geburt von sieben Kindern hatte man sich vielleicht an diese Schmerzen gewöhnt. Erschöpft schloss sie die Augen. Wie lange lag sie bereits hier? Und wie lange würde sie diese Prozedur noch durchhalten? Als es angefangen hatte, ganz harmlos, mit einem leichten Ziehen im Rücken, war sie aufgestanden und zum Fenster gegangen. Sie hatte ein Glas Wasser getrunken und hinausgesehen. Am Nachthimmel hatte sie klar und deutlich das Kreuz des Südens stehen sehen. Jetzt war es wieder dunkel. Oder immer noch? Sie konnte es nicht sagen. War eine Stunde vergangen oder zwölf? Ebenso gut hätten es ein ganzer Tag und eine ganze Nacht sein können.
Sie war müde, so müde! Sie wollte nur noch schlafen. Hoffentlich war das alles bald vorbei!
Die nächste Wehe überfiel sie mit einer Urgewalt, dass sie jede Erziehung vergaß.
Zum Henker mit den feinen Damen!
Sie drohte innerlich zu zerreißen, der Schmerz raubte ihr schier den Verstand. Sie schrie. Sie schrie so laut, dass sie den Eindruck hatte, das Glas auf dem Nachttisch neben ihrem Bett müsse zerspringen. Aber der Schrei war auch eine Erleichterung. Es war zwar nur ein winziger Tropfen auf einen brennenden Stein, aber immerhin. Die Wehe rollte abermals über sie hinweg, und sie schrie erneut.
»Pressen!« Die Stimme des Doktors drang nur silbenweise zu ihr durch.
Pressen? Tat sie das nicht schon die ganze Zeit?
Das rote, schweißbedeckte Gesicht des Arztes tauchte über ihr auf. »Hören Sie, Victoria, wir wollen alle hier heute noch fertig werden. Also nehmen Sie sich zusammen und pressen Sie!«
Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, wenn sie noch ausreichend Kraft dafür gehabt hätte.
Was hatte ihr Doktor von Kolle schon zu sagen? Er war ein Mann! Hatte er jemals in den Wehen gelegen?
»Noch einmal, Victoria!« Das war Lottes sanfte Stimme. »Du schaffst das. Ich weiß es.«
Sie sah in die dunklen Augen der Haushälterin. Sieben Kinder. Sie wusste, wovon sie sprach. Ihr konnte sie vertrauen. Sie nickte ihr zu. Lotte legte ihr einen Arm um den Nacken, half ihr, sich halb aufzurichten, den Bauch an die gespreizten Beine zu drücken. Victoria holte tief Luft und presste gegen den Widerstand an. Das Kind sträubte sich immer noch. Ihr Schädel drohte zu platzen, ihr ganzer Leib schien zu bersten. Und plötzlich, mit einem Ruck und so unerwartet, dass sie überrascht aufschrie, kam die Erleichterung.
»Es ist da!«, sagte Lotte und tätschelte ihre Wangen.
Victoria beugte sich vor. Doktor von Kolle hielt ein blutverschmiertes Etwas von der Größe eines Stallhasen in die Luft. Sie sah ein paar winzige Füßchen aus der Faust des Arztes herausragen, kleine Hände
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