Haus des Glücks
griffen erschrocken ins Leere. Dann war ein deutliches Klatschen zu hören, und gleich darauf ertönte ein Schrei. Der Schrei eines Neugeborenen.
»Frau Seymour«, sagte Doktor von Kolle und strich sich mit dem Handrücken das graue Haar aus dem Gesicht. »Darf ich vorstellen? Ihr Sohn.« Er legte ihr den kleinen Kerl auf den Bauch und deckte sie beide mit einem Laken zu. »Ein prächtiger, gesunder Bursche. Meinen herzlichen Glückwunsch!«
Victoria hätte den Arzt am liebsten umarmt. Dann betrachtete sie das winzige Bündel Mensch, das auf ihrem Brustkorb lag und atmete, die Beine angezogen, die Händchen zu Fäusten geballt.
Mein Sohn!
Erleichterung, Freude und Erschöpfung brachen über sie herein, und sie musste weinen.
Ihre linke Hand umfasste den kleinen Po, mit der Rechten streichelte sie über den flaumigen Kopf. Nie zuvor hatte sie etwas Weicheres gestreichelt, nie zuvor etwas Schöneres gesehen. »Mein Mann!«, brachte sie mühsam unter Schluchzen hervor.
Lotte nickte. Sie öffnete die Tür, und ohne dass sie auch nur ein Wort sagen musste, stürmte John an ihr vorbei zum Bett.
Victoria sah ihn an. Sein Gesicht war kreidebleich, seine blutleeren Lippen bewegten sich, ohne dass er auch nur einen Ton herausbrachte.
»Sieh nur!«, flüsterte sie und schob das Laken zurück, so dass der kleine Kopf sichtbar wurde. »Unser Sohn! Ist er nicht wunderschön?«
John sank in die Knie, ergriff ihre Hand und streichelte mit zitternden Fingern über das flaumige Haar. »Ja!«, stieß er hervor, bevor die Tränen jedes weitere Wort erstickten.
Apia, 29 . September 1892
Ich liebe das Leben auf Samoa – obwohl es sich kaum von meiner Zeit in Hamburg unterscheidet: John arbeitet mittlerweile ständig im Kontor oder reist kreuz und quer über die Insel von einer Kokosplantage zur nächsten. Er verläßt das Haus gleich nach dem Frühstück und kommt nur selten vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Manchmal bleibt er auch über Nacht auf einer der entlegenen Plantagen. Er hat sich verändert. Zwar ist er zuvorkommend, zärtlich, liebevoll und spielt gern mit Alexander, daran fehlt es nicht. Auch in der Öffentlichkeit ist er immer noch derselbe vor Witz und Charme sprühende Mann, der mein Herz im Sturm erobert hat. Aber zu Hause, in den eigenen vier Wänden, ist er seltsam still und in sich gekehrt. Er spricht wenig und geht oft früh zu Bett. Und wenn ich ihn nicht in eine Unterhaltung über Belanglosigkeiten verwickele, sitzt er schweigend auf der Veranda und trinkt Rum oder dieses abscheuliche Palmenbier, das ein Geschäftsmann aus Berlin hier auf der Insel als Ersatz für deutsches Bier braut. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um ihn. Oft denke ich daran, was er mir in Sydney erzählt hat. Leidet John unter Wahnvorstellungen, Melancholie oder Schwermut, ausgelöst durch die Schuld, die auf ihm lastet? Ganz gleich, was ich zu ihm sage, er kann sie nicht abschütteln, das weiß ich. Vielleicht sollte ich Doktor von Kolle konsultieren und ihn um Rat fragen.
Die meiste Zeit über bin ich allein mit unserem kleinen Sohn. Sooft es möglich ist, gehe ich mit ihm an den Strand. Alexander kann mit seinen knapp sechs Monaten sicher sitzen und fühlt sich am Meer mitten unter den Kindern der Einheimischen sichtlich wohl. Die samoanischen Kinder sind freundlich und aufgeschlossen. Und obwohl er kaum mehr tun kann, als den feinen Sand durch seine Finger rieseln zu lassen, schließen sie ihn in ihre Spiele ein und singen und lachen mit ihm, bis er vor Vergnügen quietscht. Während die Kleinen miteinander herumtollen, unterhalte ich mich mit den Müttern. Anfangs waren die Gespräche zögerlich, von Mißverständnissen und Scheu geprägt. Ich mußte mich buchstäblich mit Händen und Füßen verständlich machen. Doch im Laufe der Zeit haben sich meine Sprachkenntnisse verbessert. Und je besser ich verstehen und sprechen kann, um so mehr verlieren die Frauen ihre Zurückhaltung. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart wohl. Sie sind höflich, freundlich und hilfsbereit, eigentlich wird immer gesungen und gelacht. Sowenig wie ich mir früher ausmalen konnte, Hamburg zu verlassen, so wenig kann ich mir jetzt vorstellen, an einem anderen Ort zu leben als hier in Apia, in meinem »Haus des Glücks«.
Und doch spüre ich seit einiger Zeit eine Unruhe. Eine Unruhe, die mich zwingt, aufzustehen, anstatt in meinem Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen zu bleiben. Sie treibt mich auf ziellosen Wanderungen durch das Haus auf der
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