Haus des Glücks
zurzeit sieht es so aus, als würde es gar nicht erst dazu kommen.« Sie drehte das Glas in ihrer Hand hin und her. Seltsamerweise hatte sie keine Scheu, mit Victor darüber zu sprechen. Obwohl er im Grunde genommen ein Fremder war. »Meine Mutter und meine Schwester halten mich für verrückt, meine Freundinnen glauben, ich hätte eine vorgezogene Midlife-Crisis, und Marco – mein Mann – will davon überhaupt nichts hören. Er befürchtet, dass ich die Kinder und vor allem ihn vernachlässige und mich nicht mehr um den Haushalt kümmere. Vielleicht hat er auch Angst davor, ich könnte in Zukunft mehr Geld verdienen als er. Ich habe keine Ahnung. Oma Lotte ist scheinbar die Einzige, die meinen Wunsch versteht und respektiert. Deshalb hat sie mir auch Victorias Tagebuch gegeben.«
Der Kellner kam mit einer riesigen Platte, auf der kleine grüne Päckchen lagen. Er legte jedem von ihnen zwei auf den Teller, wünschte guten Appetit und entfernte sich.
Julia atmete den verführerischen Duft ein. »Was ist das?«
»Taisi Moa. In Bananenblättern gebackenes Huhn. Ein typisch samoanisches Gericht, wie wir es auch zu Hause essen.« Er senkte mit gefalteten Händen den Kopf und sprach ein stilles Tischgebet. »Lass es dir schmecken. Und was erhoffst du dir jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern und kaute den ersten Bissen voller Genuss. »Das schmeckt wunderbar!«, schwärmte sie. »Ich weiß selbst nicht genau, was ich hier möchte. Vor allem bin ich neugierig auf das Land. Ich kann behaupten, dass ich mich schon immer nach Sonne, Wärme, Strand und Meer gesehnt habe – wenigstens weiß ich jetzt, woher diese Sehnsucht kommt. Aber …«
»Du möchtest Argumente finden, weshalb du deine Entscheidung, Medizin zu studieren, auch gegen den Willen deiner Familie durchsetzen solltest?«
Julia dachte einen Augenblick nach. »Wenn ich ehrlich bin … ja, ich glaube, das trifft es. Ich habe das Gefühl, dass Victorias Leben für mich eine Botschaft enthält – wenn ich das so ausdrücken darf. Dass ich mir, wenn ich mich auf ihre Spuren begebe, darüber klarwerden kann, wer ich bin, was ich will und wohin ich gehöre.«
»Und was sagt dein Mann dazu?«
»Na ja, er hat sich lange gesträubt. Er hält das Ganze für einen Spleen. Aber schließlich hat er der Reise doch zugestimmt. Ich glaube, er wollte mir einen Gefallen tun.«
»Einmal auf die andere Seite der Erdkugel zu reisen ist eine große Gefälligkeit für einen Menschen, der offenbar im Ausland gesundheitliche Probleme hat.«
Julia hielt überrascht inne. So hatte sie es bisher noch nicht gesehen. Sie hatte sich keine Gedanken gemacht, welches Opfer dieser Urlaub für Marco bedeutete. Sie nahm sich vor, noch heute mit ihm zu sprechen und sich bei ihm zu bedanken.
»Und wie kann ich dir helfen?«, fragte Victor.
»Das hast du bereits«, sagte sie. »Ich wollte vor allem den anderen Teil meiner Familie kennenlernen. Außerdem habe ich gehofft, dass ihr mir etwas über Victoria erzählen könnt. Hast du sie gekannt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich trage zwar ihren Namen, bin jedoch kurz nach ihrem Tod geboren worden. Aber mein Vater wird dir eine Menge erzählen können. Er und Lotte schreiben sich immer noch regelmäßig. Möchtest du uns besuchen? Morgen oder übermorgen, sobald sich dein Mann besser fühlt. Vater würde sich freuen, und du könntest den Rest der Familie kennenlernen.«
Julia war sprachlos. »Das wäre toll!«, sagte sie schließlich. »Vielen Dank! Ich werde mit Marco sprechen.«
»Lasst euch Zeit, noch habt ihr ein paar Tage. Und uns wäre jeder Tag recht. Hier stehen die Telefonnummer meines Büros im Krankenhaus und meine Handynummer. Ich schreibe dir noch unsere Nummer von zu Hause auf. Meine Frau, meine Kinder und ihre Freunde verstehen und sprechen Englisch, so dass die Verständigung keine Probleme machen sollte. Falls Vater ans Telefon geht, kannst du sogar deutsch mit ihm reden.«
»Deutsch?«
»Victoria hat mit ihren Söhnen und Enkeln immer deutsch gesprochen, wenn sie im Haus waren.«
Er reichte ihr eine Visitenkarte.
»Danke«, sagte sie. »Vielen Dank.«
Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Dafür nicht. Wir sind doch eine Familie.«
Es war halb drei, als Julia in den
Coconuts Beach Club
zurückkehrte. Marco lag im Bett und sah nicht mehr ganz so bleich aus wie am Morgen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie, setzte sich an die Bettkante und strich ihm ein wenig schüchtern über das Haar.
»Etwas
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