Haus des Glücks
Verwandter. Doch mal war es eine Frau, dann zwei Geschäftsleute, eine Familie mit zwei Kindern. Endlich kam ein Mann mit grauen Haaren herein, der sich zuerst an einen der Kellner wandte. Erfreut sah sie, dass dieser nickte und in ihre Richtung deutete. Und dann erkannte sie den Mann auch. Sie hatten via E-Mail ihre Fotos ausgetauscht.
»Julia?« Er kam näher und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Victor. Es freut mich, dich kennenzulernen.« Er lächelte etwas verlegen. »Es tut mir leid. Ich sage so ganz selbstverständlich du, so wie es bei uns hier üblich ist. Dabei hätte ich dich natürlich erst fragen müssen.«
»Das ist in Ordnung«, sagte sie. Er war ihr sofort sympathisch. Sein dunkles, kurzgeschnittenes Haar war bereits von grauen Strähnen durchsetzt. Sie wusste, dass er fünfundfünfzig Jahre alt und Chef der chirurgischen Abteilung am Krankenhaus in Apia war. Victoria wäre stolz auf ihn gewesen.
»Es tut mir leid, dass du auf mich warten musstest. Aber ich kam aus dem OP nicht heraus.« Sie nahmen beide Platz, er bestellte auch ein Wasser, und der Kellner reichte ihnen die Speisekarte. »Wo ist denn dein Mann? Wird er nicht mit uns essen?«
»Nein. Er ist …« Ihr fiel ein, dass sie einem Arzt gegenübersaß, mit dem sie offen reden konnte. »Er ist krank. Erbrechen und Durchfall.«
»Oh, das tut mir aber leid. War schon ein Arzt bei ihm?«
Julia schüttelte den Kopf. »Bisher gibt es dafür keinen Anlass. Er ist versorgt. Ich habe ihm Imodium gegeben und eine Vomex. Jetzt schläft er.«
»Das ist schade. Ihr seid das erste Mal auf Samoa, nicht wahr?«
Julia nickte.
»Und wenn ich dich richtig verstanden habe, bleibt ihr auch nicht lange?«
»Acht Tage. Mit heute sind es nur noch sieben.«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Da ist eigentlich jede Stunde kostbar. Wenn ich euch helfen kann, wenn ihr Medikamente braucht, sag Bescheid.«
»Das ist nett, vielen Dank. Aber wir kennen das schon. Sobald wir ins Ausland fahren, liegt er die ersten Tage flach und ernährt sich von nichts als Salzkräckern und Cola. Deshalb haben wir immer alles dabei.«
»Aber du fühlst dich gut?«
»Ja, mir geht es prächtig.«
»Wahrscheinlich schützen dich deine samoanischen Wurzeln.« Er lächelte, und um seine dunklen Augen bildeten sich zahlreiche kleine Fältchen. Ein Mensch, der gern lachte. Und der auf eine überraschende Art eine verblüffende Ähnlichkeit mit Oma Lotte hatte. »Darf ich dir etwas zum Essen empfehlen?«
»Gern.«
Er wechselte mit dem Kellner ein paar Worte samoanisch. Der Kellner nickte, klappte die Karten zu und entfernte sich.
»Du hast in deiner E-Mail geschrieben, dass du dich für Victoria interessierst. Ich habe dir ein Tagebuch von ihr mitgebracht.« Er schob ein dickes, mit marmoriertem Pappeinband versehenes Buch über den Tisch.
»Es gibt noch eins? Ich habe eines von meiner Großmutter bekommen, aber es endet 1916 . Darf ich es mir ausleihen, solange wir hier sind?«
»Natürlich. Und du hast die weite Reise aus Deutschland hierher angetreten, nur um etwas über deine Ururgroßmutter zu erfahren?«
Julia lächelte verlegen. »Nein, nicht ganz. Ich habe von meiner Großmutter Victorias Tagebuch bekommen. Dadurch habe ich herausgefunden, dass sie auf Samoa gelebt hat, einen samoanischen Mann geheiratet hat und dass Oma Lottes Vater Samoaner gewesen ist. Ich wollte einfach nach … nach …« Plötzlich fiel ihr auf, dass sie selbst nicht genau wusste, was sie eigentlich hier suchte.
Er kniff die Augen zusammen, lächelte. »Heutzutage wird viel über die eigene Identität gesprochen. Bist du auf der Suche danach?«
»So ungefähr. Und ich möchte weitere Nachforschungen über Victoria betreiben.« Nervös strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und schob ihr Besteck auf dem Tisch herum. Sie wusste selbst, wie seltsam und überspannt sich das anhörte. »Ich habe vor, Medizin zu studieren. Das wollte ich schon immer. Ich habe zuerst eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Ich hatte gerade mit dem Studium begonnen, als ich meinen Mann kennenlernte und heiratete. Dann kamen die Kinder und ich habe das Medizinstudium aufgegeben. Jetzt würde ich gern wieder dort anknüpfen, aber …«
»Es ist gewiss nicht leicht, mit dreißig und als Mutter von … drei? Du hast doch drei Kinder?«
Julia nickte.
»Als Mutter von drei Kindern noch einmal ein Studium zu beginnen.«
»Das weiß ich nicht. Ich schätze, das müsste ich selbst herausfinden, aber
Weitere Kostenlose Bücher