Haus des Glücks
eine Maske durch seine Finger gleiten und prüfte dabei die Gummidichtung und das Mundstück.
»Es würde mich reizen, das auch auszuprobieren«, sagte Julia und strich fast ehrfürchtig über das kühle Metall einer gelben Gasflasche. »Das Schnorcheln gestern war so wunderschön. Nur die ständigen Unterbrechungen haben mich gestört. Als ob man beim Hören einer CD alle paar Sekunden auf die Stopptaste drückt. Ich fühlte mich andauernd herausgerissen. Aber atmen muss man schließlich.«
»Ein treffender Vergleich«, sagte David und nahm die nächste Maske. »Schnorcheln ist Musik mit permanenten Unterbrechungen. Einige Titel hört man immer wieder, andere verpasst man. Tauchen hingegen …« Er lächelte. »Beim Tauchen hörst du die ganze CD , vom ersten bis zum letzten Takt, ohne Pausen, ohne Wiederholungen. Es ist der vollendete Genuss.«
»Ich weiß, das kommt jetzt etwas überfallsartig. Dürfte ich mich der Gruppe anschließen?«
»Klar«, erwiderte er. »Hast du ein Gesundheitszeugnis?«
»Nein. Aber mir fehlt nichts. Könnte ich nicht doch …«
Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, das geht nicht. Es ist zu gefährlich. Du brauchst nur eine verschleppte Mittelohrentzündung oder Bluthochdruck haben, von dem du nichts weißt. Und wenn dir das Atemgerät Probleme macht, liegst du im Krankenhaus, und ich mache mir bis ans Ende meiner Tage Vorwürfe. Nein.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Hier im Hotel ist ein Arzt. Der kann dir ein Attest ausstellen. An der Rezeption besorgen sie dir einen Termin. Und wenn alles in Ordnung ist, nimmst du eben an der nächsten Schnupperstunde teil. Morgen findet wieder eine statt.«
Julia seufzte. Sie dachte an die knapp bemessene Zeit, und David lächelte aufmunternd.
»Keine Sorge. Wir kriegen das hin.«
Es war schon nach elf Uhr. Marco lag bereits auf der Seite und schlief, erschöpft vom Tag. Sie hatten das Stevenson-Haus besucht und einen ausgedehnten Spaziergang den Strand entlang gemacht. Vor dem Abendessen hatte sie ihren Arzttermin wahrgenommen. Wie erwartet fehlte ihr nichts, was sie am Tauchen gehindert hätte. Als sie Marco von ihrem Plan, an dem Schnuppertauchkurs teilzunehmen, erzählt hatte, hatte er nur gesagt: »Mach doch.« Damit war alles geklärt. Morgen früh würde sie das Atemgerät ausprobieren. Und danach trafen sie endlich ihre Familie. Sie waren zum Mittagessen bei Victor eingeladen. Ein volles, buntes Programm.
Julia saß im Bett und las noch in Victorias Tagebuch. Sie war bei einem besonderen Datum angelangt. Es war der 23 . September 1935 . Der Tag, an dem ein Teil der Familie, zu dem auch die damals knapp siebenjährige Oma Lotte gehörte, die Rückreise nach Deutschland antrat. Sie kehrten Samoa – und damit auch Victoria – für immer den Rücken. Julia erinnerte sich daran, dass Oma Lotte davon gesprochen hatte, ihre Mutter sei überzeugt gewesen, dass Victoria ihre Arbeit in Praxis und Krankenhaus stets ihrer eigenen Familie vorgezogen hatte. Dieser Eintrag erzählte eine andere Geschichte. Die Schrift wirkte zittrig, und die Tinte war an mehreren Stellen verlaufen, als wäre Regen darauf gefallen – oder Tränen.
Tanugamanono, 23 . September 1935
Heute sind Simaika, Klara, Johanna und Martin mit ihren Kindern nach Deutschland aufgebrochen. Mir blieb nur, alles Gute zu wünschen und ihnen am Kai hinterherzuwinken. Johanna – obgleich hier geboren – hat sich nie heimisch auf Samoa gefühlt, sie ist im Gegensatz zu Alexander und Konstantin immer eine Deutsche geblieben, die sich nicht mit der Beschaulichkeit der Samoaner und ihren Bräuchen abfinden konnte. Ich weiß noch, wie sie selbst als kleines Mädchen darauf bestand, Rüschenkleider mit Unterröcken zu tragen. Ebenso ist es bei Klara und Martin, die Deutschland noch aus ihrer Kindheit kennen und immer Heimweh hatten. Sie kehren nach Hause zurück, und das ist vermutlich auch gut so.
Aber was ist mit Simaika? Er ist Samoaner, ein Kind der Südsee, ein kluger, sensibler Mann. Um ihn mache ich mir die meisten Sorgen. Wird er das rauhe, kalte Klima vertragen? Sich an Wärme und Sonne zu gewöhnen ist gewiß leichter. Außerdem ist das Deutschland von heute nicht mehr das gleiche Land, wie ich es kenne. Seltsame Kräfte sind dort zurzeit am Werk, böse Kräfte. Im »Ärzteblatt« lese ich Artikel über »Rassenhygiene« – was auch immer die Autoren darunter verstehen mögen –, und mir wird angst und bange.
Simaika hat die wunderbare
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