Haus des Glücks
Sie klingelten an der Haustür und eine pummelige, etwa fünfzigjährige Samoanerin mit einem hübschen, freundlichen Gesicht öffnete ihnen.
»Julia. Marco! Ich bin Jane.« Sie wurden beide mit einer Umarmung begrüßt und ins Haus gezogen. Im Hintergrund liefen zwei junge Frauen geschäftig hin und her, und durch die geöffneten Fenster drang das Lachen von Kindern herein. »Es sind schon fast alle da. Kommt mit in den Garten, damit ich euch vorstellen kann!«
Sie zog sie auf die Terrasse hinaus, wo bestimmt zwanzig oder dreißig Frauen und Männer und fast ebenso viele Kinder versammelt waren. Die einen bauten den Grill auf, die anderen deckten den Tisch. Jane klatschte in die Hände und sagte ein paar Worte auf samoanisch. Dann stellte sie jeden vor, und schon bald schwirrte Julia der Kopf von den exotischen Namen und Gesichtern, von denen anscheinend jeder ein Cousin oder eine Cousine war.
Victor zog sie lächelnd zur Seite. »Du wolltest doch mit meinem Vater reden. Vor dem Essen ist es am besten. Die anderen sind beschäftigt. Er ist alt, nicht mehr so kräftig wie früher und ermüdet schnell. Er wartet auf dich im Wohnzimmer, da habt ihr etwas mehr Ruhe als hier draußen.«
Er führte sie in einen großzügigen Raum, wo ein alter Mann mit silberfarbenem Haar auf einem breiten Sofa saß. Victor stellte sie einander vor. Sein Name war John.
»Was wir zu besprechen haben, können wir allein bereden. Du solltest dich um die Familie im Garten kümmern«, sagte der Alte, und Victor ging, gehorsam wie ein kleiner Junge, hinaus. »Du bist also Lottes Enkelin.« Er musterte Julia neugierig von Kopf bis Fuß. »Du siehst ihr ähnlich.«
Julia war überrascht, aus dem Mund eines uralten Samoaners Deutsch zu hören, das in seinem Tonfall einen Hamburger Akzent hatte. Offenbar hatte sich der Dialekt über hundert Jahre hinweg innerhalb der Familie erhalten.
»Danke.«
»Victor sagt, dass du dich für meine Großmutter interessierst. Dass du ihre Tagebücher liest und allein wegen ihr nach Samoa gereist bist. Stimmt das?«
»Ja, das ist richtig.«
Er beugte sich vor und blickte ihr forschend ins Gesicht. »Warum? Warum hast du das Tagebuch gelesen? Was hat dich hierhergeführt?« Er legte ihr kurz eine Hand auf den Arm. »Entschuldige meine Neugierde. Natürlich brauchst du mir auf diese Frage keine Antwort geben. Aber es interessiert mich, weshalb eine hübsche junge Frau in Deutschland plötzlich auf die Idee kommt, sich mit ihrer Ururahnin auf Samoa zu beschäftigen. Wenn Victoria eine Berühmtheit gewesen wäre, könnte ich es noch nachvollziehen. Aber das ist sie nicht. Warum also dieser Aufwand?«
Julia begann zu erzählen – von ihrem Wunsch, Medizin zu studieren, Marcos Weigerung und wie Oma Lotte ihr Victorias Tagebuch und Fotoalbum gegeben hatte. Und plötzlich stellte sie sich die gleiche Frage.
Warum? Was hatte Victoria mit ihr zu tun oder Samoa oder diese Familie? Weshalb hatte sie Marco gegen seinen Willen an das andere Ende der Welt geschleift? Nur um unter Palmen zu liegen und in einem Korallenriff zu schnorcheln? War sie verrückt? Oder war es Schicksal?
Sie merkte, dass sie verstummt war. Johns dunkle Augen waren fest auf sie gerichtet, es war ein Blick, dem sie nicht entkam. Sie fühlte sich entlarvt und bloßgestellt. Vor allem vor sich selbst.
»Was möchtest du wissen?«
Nur mühsam kam Julia zu sich. »Du hast sie gekannt?«, fragte sie etwas lahm.
»Natürlich. Sie war meine Großmutter.« John lächelte. »Ich bin Semos Sohn. Großmutter war eine wunderbare Frau. Sie liebte ihre Kinder, ihre Familie. Und sie hat den Neuseeländern die Stirn geboten. Zuerst während der Spanischen Grippe. Mein Vater erzählte mir oft, wie sie den damaligen Militärbefehlshaber beschimpft hat, weil er das Quarantäneschiff im Hafen anlegen ließ. Er hat sie daraufhin in Beugehaft genommen, aber zwei Tage später ist sie hocherhobenen Hauptes hinausspaziert, ohne auch nur ein Wort zurückgenommen zu haben. 1928 , während des zweiten Aufstandes der Mau, als die Soldaten auf die bis dahin friedlichen Demonstranten schossen, soll sie dem verantwortlichen Gouverneur eine Ohrfeige gegeben haben. Anschließend hat sie sich um die zahlreichen Verletzten dieser Militäroffensive gekümmert. Sie wurde dadurch zu einer Symbolfigur für die Unabhängigkeitsbewegung. Da man es nicht wagte, sie zu inhaftieren, weil man einen Bürgerkrieg befürchtete, hat man ihr die Erlaubnis zu praktizieren entzogen. Aber das
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