Haus des Glücks
gehört? Geht es euch gut?«
»Mir schon, aber ich weiß nicht, wo Marco steckt. Wir haben uns vorhin getrennt, und jetzt geht er nicht an sein Telefon und …« Sie begann zu schluchzen.
»Wo bist du?«
»Auf der Küstenstraße auf dem Weg zum Hotel. Ich habe einen Wagen angehalten.«
»Du solltest sofort ins Landesinnere fahren.«
»Nein. Nein, Victor, das mache ich nicht.«
»Höre mir zu, Julia. Du musst dich in Sicherheit bringen.«
»Nein!«, sie schrie fast in das Handy.
»Das Hotel steht viel zu dicht an der Küste. Es gibt Sammelpunkte auf der Insel. Das Personal wird das Gebäude evakuieren und die Gäste so schnell wie möglich ins Landesinnere bringen. Du …«
»Nein! Ich gehe nicht ohne Marco!«
»Er ist vielleicht schon dort.«
»Und wenn nicht? Wenn er im Hotel ist und nicht rechtzeitig wegkommt?«
Sie hörte, wie Victor Luft holte. Noch ehe er es aussprach, wusste sie, was er sagen wollte.
»Du musst an deine Kinder denken. Vielleicht ist Marco bereits auf dem Weg zu einem der Sammelpunkte. Mach dir keine Sorgen.«
Er legte auf. In diesem Augenblick bog der Fahrer so scharf links ab, dass Julia das Handy aus der Hand fiel. Polternd fiel es zu Boden.
»Was tun Sie da!«, schrie sie und hätte dem Mann am liebsten ins Steuer gegriffen. »Der
Coconuts Beach Club
liegt in der anderen Richtung!«
»Sehen Sie sich um!« Er warf ihr im Rückspiegel einen kurzen Blick zu, sein Gesicht war angespannt. »Es ist so weit. Wir müssen von der Küste weg.«
Julia wandte sich um. Am Horizont sah sie etwas Graues. Es hatte Ähnlichkeit mit einer schmalen Mauer. Doch diese Mauer wuchs. Und sie kam näher.
»O mein Gott!«, flüsterte sie.
Der Mann trat das Gaspedal durch, der Motor heulte auf, und holpernd raste der Wagen die Straße entlang. Die Kinder begannen leise zu weinen. Die Frau auf dem Beifahrersitz faltete die Hände und schloss die Augen.
Die Wasserfront näherte sich in rasender Geschwindigkeit. Vor ihnen erhob sich mitten zwischen den Palmen ein Hügel.
»Los! Lauft so weit hinauf, wie ihr könnt!«, rief der Mann. Er bremste den Wagen so abrupt, dass sie alle durcheinandergeschüttelt wurden. Sie sprangen hinaus, Julia half den Kindern. Gemeinsam hasteten sie die Anhöhe nach oben. Der Untergrund war voll mit Pflanzen, die sich um die Beine schlangen, das Vorankommen war schwierig. Es war wie in einem Alptraum – man rennt und rennt und kommt doch nicht voran. Hinter sich konnte sie bereits das Tosen der riesigen Welle hören.
Endlich hatten sie die Hügelkuppe erreicht.
»Halten Sie sich an einem Baum fest!«, schrie ihr der Mann gegen das Brüllen des Wassers zu.
Sie klammerte sich gemeinsam mit einem der beiden Kinder an eine Palme. Sie hielt das Mädchen fest. Die Kleine in ihren Armen war etwa in Simons Alter, sie zitterte und kniff ihre Augen fest zusammen. Und plötzlich wurde Julia bewusst, dass dies das Ende sein konnte. Sie dachte an Marco, an Miriam, Simon und Jonas und betete.
Und dann war das Wasser bei ihnen. Sie sah die graue schlammige Brühe, die sich mit zerstörerischer Gewalt durch den Urwald wälzte. Auf der Krone schwammen Bretter, Äste, ganze Baumstämme mit. Die Motorhaube eines grünen Wagens ragte aus den Fluten. Sie hatte zu viel Angst, um zu weinen. Sie hatte zu viel Angst, um an irgendetwas anderes zu denken als »Herr, bitte!«
Dann war es plötzlich vorbei. Das Wasser zog sich zurück, fast ebenso schnell, wie es gekommen war. Zurück blieb eine Spur der Verwüstung, als hätte ein Riese mit einem Radiergummi einmal über die Insel gewischt. Wie bei einer Sandburg, über die eine Welle hinweggerollt war.
Im ersten Augenblick konnte Julia es nicht fassen. Sie lebte! Dann liefen ihr die Tränen wie Sturzbäche über das Gesicht.
Bitte, Herr, lass nicht zu, dass Marco etwas geschehen ist, lass ihn in Sicherheit sein! O bitte, lass mich Marco unversehrt wiederfinden!
Horrorbilder aus dem Fernsehen von Tsunamis geisterten durch ihren Kopf – emporgehobene Autos, Schlammmassen, eingestürzte Häuser. Meldungen von Hunderten, Tausenden von Toten.
Bitte, Herr, verschone Marco! Bitte mach, dass ihm nichts zugestoßen ist!
Sie wollte ihr Handy aus der Tasche nehmen, da fiel ihr ein, dass es ihr aus der Hand gefallen war. Sie hatte es nicht aufgehoben, es musste also noch im Wagen liegen. In jenem Wagen, der am Fuße des Hügels gerade vor wenigen Augenblicken überflutet worden war.
»Hier bitte.« Die Frau reichte ihr ein
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