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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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Herren, wenn Sie mir bitte in die Bibliothek folgen wollen.«
    Die Männer erhoben sich, halfen ihren Ehefrauen beim Aufstehen und verließen das Speisezimmer. Mutter schickte Johanna und Paul auf ihre Zimmer, und die beiden verabschiedeten sich artig von den Gästen.
    Victoria sah ihnen mit einer Mischung aus Mitleid und Sehnsucht nach. Sie selbst durfte erst seit ihrem sechzehnten Geburtstag im Januar länger bei den Gesellschaften verweilen, hatte aber keine rechte Freude an diesem Privileg. Wenn es ihr gestattet wäre, in der Bibliothek an den Gesprächen der Herren teilzunehmen oder wenigstens zuzuhören! Das hätte ihr gefallen! Bestimmt erörterten sie heute neue Behandlungsmethoden und besonders komplizierte Fälle oder diskutierten über einen Artikel im
Ärzteblatt
oder in der Tageszeitung. Stattdessen stand ihr ein Abend im Salon bevor mit Handarbeiten und Themen, die sich bestenfalls um Klatsch, Tratsch und Tulpenzwiebeln drehten. Da schon lieber wie Paul und Johanna auf das Zimmer gehen. Dort konnte man wenigstens ungestört lesen. Gerade jetzt wartete unter ihrer Matratze ein schmales Bändchen mit lateinischen Fabeln auf sie, mit deren Hilfe sie ihre Sprachkenntnisse vertiefen wollte.
    »Hilde, die Herren werden ihren Kaffee in der Bibliothek zu sich nehmen«, sagte Klara Bülau zu dem Dienstmädchen, das damit begann, das Geschirr abzuräumen. »Uns servierst du ihn bitte im Salon.«
    »Jawohl, gnädige Frau.«
    Im Salon machten es sich die Damen auf den verschiedenen Sesseln bequem und holten ihre Handarbeiten hervor. Es wurde verglichen, begutachtet und gelobt. Besonderes Entzücken erntete Susanna Jensens Strickzeug.
    Sie war die einzige der anwesenden Frauen, die Victoria mochte. Wie Susanna ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit versichert hatte, langweilte sie sich bei den üblichen Salon-Gesprächen ebenso wie sie. Gewöhnlich riefen ihre Handarbeiten auch keine Begeisterungsstürme hervor, doch zurzeit arbeitete sie an einem winzig kleinen Stück aus feiner weißer Wolle. Es dauerte eine Weile, bis Victoria begriff, dass es ein Babystrumpf war. Die Damen beglückwünschten sie.
    »Das freut mich für euch«, sagte Frau Doktor Sengelmann; eine dünne, braunhaarige Frau Mitte dreißig, deren Vornamen Victoria sich nicht merken konnte und auch nicht musste, da sie in der Anrede stets auf dem Titel bestand. Ihr Ehemann, der Oberarzt, war ein stiller, feinsinniger Mensch, der virtuos Geige spielte und wundervolle Gedichte schrieb, die er zu seltenen und daher besonderen Gelegenheiten mit tiefer, ruhiger Stimme vortrug. Immer, wenn sie das ungleiche Paar zusammen sah, hatte sie den Verdacht, dass diese Ehe arrangiert oder die Folge eines Fehltritts war. »Ich hatte schon befürchtet, dass es für euch beide zu spät werden könnte.«
    Susanna überging die Spitze mit einem Lächeln und strickte weiter.
    Victoria setzte sich neben sie auf das Sofa. Unwirsch nahm sie ihren Strickstrumpf aus dem Handarbeitskorb, an dem sie bereits seit Weihnachten arbeitete. Wenigstens konnte sie sich unter dem Vorwand, Maschen zählen zu müssen, aus den nichtssagenden, ermüdenden Gesprächen zurückziehen und nachdenken.
    Susanna erwartete also ein Kind. Sie war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Die fast fünfzehn Jahre ältere Frau war ihr bisher immer ein Vorbild gewesen – intelligent, gebildet, mutig. Sie hatte an einer Höheren Töchterschule unterrichtet, bevor sie ihren Mann kennengelernt hatte. Wegen ihrer Heirat war sie dann gezwungen gewesen, den geliebten Beruf aufzugeben. Dennoch war sie nicht zu einem langweiligen Hausmütterchen geworden. Sie besuchte Kunstausstellungen und Lesungen und unterhielt einen regen Briefwechsel mit einem Philosophieprofessor in Leipzig und einer Ärztin in der Schweiz. Einmal im Monat lud sie zu einem Lesezirkel in ihren Salon, um mit anderen Frauen über Ibsen, Darwin, Marx und Nietzsche zu diskutieren anstatt über neue Tulpenzüchtungen, die besten Bratensoßen oder Kreuzstich. Victoria wäre auch gern zu diesen Nachmittagen gegangen, aber sie war noch zu jung. Sie hätte ihre Mutter dafür um Erlaubnis bitten müssen, welche diese ihr niemals gewährt hätte. Sie hatte auf ihre Volljährigkeit gehofft. Doch jetzt erwartete Susanna ein Kind. Sie würde Mutter sein, Windeln wechseln, Brei kochen. Wo blieb da noch Zeit für Literatur, Lesezirkel und Diskussionen?
    »Du erwartest ein Kind?«, fragte sie leise, so dass die anderen, die bereits den neusten

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