Haus des Glücks
ohnehin heiraten. Da hätte sie sich die ganze Mühe gleich sparen können.« Johanna zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Victoria beschloss, über das mangelnde Verständnis ihrer Schwester hinwegzusehen. Sie musste nachsichtig mit ihr sein. Sie war noch zu klein, erst zwölf, noch ein richtiges Kind. In diesem Alter war man naiv, wusste noch nichts vom Leben. Das Vertrauen in die Eltern und die Rechtmäßigkeit des vorgezeichneten Weges war beinahe grenzenlos.
»Lass uns in den Salon gehen, Victoria. Die Eltern kommen bestimmt gleich nach Hause. Heute Abend haben wir doch eine Gesellschaft. Wer weiß, möglicherweise ist wieder einer von Vaters jungen Assistenten dabei!« Johanna hakte sich bei ihr unter und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Mitunter glaube ich, sie kommen nur deinetwegen.«
»Warum?«
»Na, so klug und hübsch, wie du bist, ist es doch kein Wunder, dass die Verehrer vor unserer Tür Schlange stehen.« Johanna schmiegte sich an sie. »Hast du schon darüber nachgedacht, wie deine Kinder heißen werden?«
Victoria musste laut lachen. »Nein.«
»Ich schon. Meine Tochter werde ich Victoria nennen.«
»Danke«, flüsterte Victoria. Sie küsste ihre kleine Schwester zärtlich auf das blonde Haar und fragte sich, womit sie diese Bewunderung verdient hatte.
Hamburg, 12 . Mai 1886
Ich werde in der Schweiz Medizin studieren! Franziska und ich planen es schon lange, doch der Artikel einer Ärztin heute im »Ärzteblatt« hat mich bestätigt. Es ist möglich. Es gibt Frauen, die diesen Weg bereits gegangen sind. Und deshalb werde ich es auch tun. Ich werde Medizin studieren! Jetzt muß ich es nur noch den Eltern beibringen. Wegen Vater mache ich mir keine Sorgen. Er ist immer recht vernünftig und denkt fortschrittlich. Außerdem ist er selbst Arzt. Er wird mich gewiß verstehen. Bei Mutter hingegen bin ich mir nicht sicher. Sie ist so rückständig! Am liebsten hätte sie es, wenn sie mit mir bereits das Menu für die Hochzeitsfeier aussuchen könnte. Ich fürchte, sie wird von meinen Plänen nicht begeistert sein. Trotzdem lasse ich mich nicht davon abbringen. Anderen Frauen sind auch Steine in den Weg gelegt worden, und sie haben sie überwunden. Weshalb sollte ich es nicht schaffen? Die Frage ist nur, wann ich mit Vater und Mutter sprechen soll. Einerseits ist es dringend, denn die Anmeldefrist für das Lehrerinnenseminar endet am 31 . Mai. Andererseits muß ich den richtigen Zeitpunkt abpassen. Hoffentlich gelingt es mir, einen günstigen Moment abzuwarten.
»Das Essen war wie immer vorzüglich, meine Liebe, vielen Dank.« Herzlich drückte Gotthard Bülau die Hand seiner Frau. »Ich hoffe, es hat auch Ihnen gemundet?«
Er erntete die Zustimmung aller, die an dem großen ovalen Tisch saßen. Die meisten von ihnen kannte Victoria. Es waren der Oberarzt Doktor Sengelmann sowie Doktor Jensen und Doktor Matzen, die beiden Altassistenten der internistischen Abteilung, die ihr Vater als Chefarzt leitete. Sie kamen mit ihren Frauen häufig zu Besuch. Den vierten Gast, einen farblosen jungen Mann, der sich etwas steif als »Johannes Klopp, Medizinstudent im letzten Jahr« vorgestellt hatte, sah sie hingegen zum ersten Mal. Er war ohne Begleitung und in einem Anzug erschienen, der aussah, als wäre er bereits vor einigen Jahren aus ihm herausgewachsen. Welchen besonderen Fähigkeiten er die Einladung ihres Vaters zu verdanken hatte, blieb Victoria allerdings verborgen. Er fiel weder durch herausragende Klugheit, sprühenden Witz oder übermäßigen Charme auf. Tatsächlich wirkte er nervös und hölzern. Schweigsam hatte er sich seinem Essen gewidmet und nur kurz aufgesehen, um seinen scheuen Blick über die Einrichtung, das Geschirr, das Tafelsilber und die Anwesenden streifen zu lassen. Als sich ihre Augen begegnet waren, hatte Victoria sich nicht zurückhalten können. Nahezu schamlos hatte sie ihn angelächelt. Er war rot geworden und hatte seine Aufmerksamkeit von da an nur noch auf seinen Teller gerichtet.
Vater tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Meine Damen«, er verbeugte sich mit einem charmanten Lächeln in Richtung der weiblichen Gäste, »Sie mögen mir verzeihen, dass ich es wage, Ihnen jetzt Ihre Gatten zu entführen. Wir haben einige wissenschaftliche Themen zu erörtern. Ich wäre untröstlich, Sie damit zu langweilen. Stattdessen überlasse ich Sie der unterhaltsamen Gesellschaft meiner teuren Frau. Meine
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