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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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Punkten von der des Mannes, wodurch ihre rein biologisch betrachtete Funktion klar geregelt war. Aber es gab doch auch Männer, die keine Kinder zeugten, die nicht einmal verheiratet waren, sondern sich ganz und gar der Wissenschaft widmeten. Und es gab Männer, die alles haben wollten und bekamen: eine leitende Stellung, eine selbständige Tätigkeit, eine Familie. Sollte das den Frauen verwehrt bleiben, allein aus dem Grund, weil sie Frauen waren? Und was würden gleiche Bildungschancen für Frauen für die Welt bedeuten? Ärztinnen, Chemikerinnen, Physikerinnen, Anwältinnen, Richterinnen, am Ende gar eine Reichskanzlerin? Unvorstellbar. Wahnwitzig. Absurd. Oder die Zukunft?
    Seine Gedanken ließen Gotthard schwindeln, und er schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben. Vielleicht hatte sein Vater ja damit recht gehabt, revolutionären Ideen keinen Platz einzuräumen. Andererseits würden Afrika, Asien und der Amazonas weiter unerforscht sein, die europäische Bevölkerung nach wie vor allein in ihrer alten Welt hausen und glauben, diese wäre eine Scheibe. Und er würde sich immer noch darüber ärgern, wie schnell die Tinte am Federkiel trocknete und wie oft er sie in das Tintenfass tauchen musste, um ein paar lächerliche Zeilen zu schreiben. Fortschritt bedeutete Neuerungen. Neuerungen bedeuteten Veränderungen. Und Veränderungen machten Angst, führten jedoch oft zu Verbesserungen – wie man anhand der wunderbaren Erfindung des Füllfederhalters sehen konnte.
    Gotthard nahm einen Briefbogen aus der Schreibmappe und schraubte die Kappe des Füllfederhalters ab. Er würde die Petition mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, auch wenn das Anliegen der Leipziger Professoren zum jetzigen Zeitpunkt der Geschichte unerhört schien. Er hatte kein Recht, sich dem Fortschritt in den Weg zu stellen. Außerdem war Leipzig näher als Zürich.
     
    Hamburg, 19 . Mai 1886
     
    Jetzt ist es heraus, die Eltern wissen Bescheid. Das Gespräch fand heute statt. Ich hatte es zwar so nicht geplant und war deshalb auch nicht so gut vorbereitet, wie ich gehofft hatte, aber ich glaube, ich kann zufrieden sein. Wie erwartet ist Vater recht vernünftig gewesen. Doch Mutter war so erschüttert, daß sie kaum ein Wort hervorbrachte. Man möchte meinen, ein Studium sei etwas Unehrenhaftes. Leider konnte ich auch Vater nicht vollständig überzeugen. Wir haben daher einen Kompromiß geschlossen. Es ist nicht das, was ich mir erträumt habe, aber es ist ein Anfang. Ich darf nicht vergessen, daß mich auch kleine Schritte meinem Ziel näher bringen.
    Ich werde das Lehrerinnenseminar besuchen und dort meinen Abschluß machen. Schon im August beginnt der Unterricht. Die Ausbildung dauert drei Jahre, und so kann ich hoffen, daß sich Vater und Mutter in dieser Zeit an den Gedanken einer studierenden Tochter gewöhnt haben. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Man soll den Fuß immer erst heben, wenn man am Zaun steht. So heißt es doch. Daran werde ich mich halten.
    Und eines Tages bin ich dann Ärztin. Hurra!

5
    Herbst 1887
    V ictoria trat mit ihrer Freundin Franziska und den anderen Mitschülerinnen aus dem Portal des Lehrerinnenseminars. Der Unterricht war für diesen Tag beendet.
    »Bis morgen, ihr zwei!«
    »Ja, bis morgen, Louise.«
    Die jungen Frauen verabschiedeten sich und gingen auseinander. Die meisten von ihnen wohnten im benachbarten Pensionat, in dem es nach Bohnerwachs und Erbsensuppe roch und wo man nur einmal in der Woche, mittwochs, bei trockenem, geschmacklosem Gebäck und dünnem Getreidekaffee Besuch empfangen durfte. Victoria war schon öfter zu derartigen Gesellschaften eingeladen worden und jedes Mal von tiefer Dankbarkeit erfüllt in ihr komfortables und gemütliches Elternhaus zurückgekehrt.
    »Ich gehe heute mit dir zu Fuß nach Hause«, sagte Franziska, die gewöhnlich mit einer Kutsche abgeholt wurde.
    Victorias Mutter bot ihr ebenfalls an, den Einspänner zu schicken. Es war ihr peinlich, dass ihre älteste Tochter das Lehrerinnenseminar besuchte, anstatt verheiratet oder wenigstens verlobt zu sein und daheim Bett- und Tischwäsche mit Monogrammen zu besticken. Doch Victoria ging viel lieber zu Fuß. Das Seminar lag nur wenige Straßen von ihrem Elternhaus entfernt, und der Weg war nicht gefährlich – in den Hauseingängen und an den Straßenecken lauerten schlimmstenfalls Zeitungsjungen und Blumenfrauen, die das
Hamburger Abendblatt
oder eine Rose verkaufen wollten. Zudem führte

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