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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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jetzt wahrscheinlich auf den Tisch schlagen müssen. Er war der Vater. Es war seine Pflicht, seine Kinder vor Dummheiten und Schaden zu bewahren. Wenn er wollte, konnte er Victoria hindern. Er könnte sie zu seiner Schwägerin oder einer Pfarrersfamilie aufs Land schicken. Er könnte sie bei Wasser und Brot in ihrem Zimmer einsperren. Er könnte sie mit dem Sohn eines Kaufmanns verheiraten. Sein Vater hätte ohne zu zögern eine dieser Maßnahmen ergriffen. Er aber würde nichts dergleichen tun. Er war ein lausiger Vater, und er schämte sich deswegen. Das Schlimmste aber war, dass er Victoria gegen jede Vernunft verstehen konnte. »Unter der Voraussetzung, dass Frauen auch in Deutschland zum Studium zugelassen wären, könnte ich mir möglicherweise vorstellen, mich auf diesen Wahnsinn einzulassen. In Leipzig scheinen die Professoren gerade darüber zu diskutieren.«
    Er hatte leise gesprochen, mehr zu sich selbst als zu seiner Tochter. Doch sie hatte genau zugehört und ihr Gesicht begann zu leuchten. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Vater? Sie gestatten mir, das Lehrerinnenseminar zu besuchen. Und wenn bis zum Examen auch eine deutsche Universität Studentinnen akzeptiert, darf ich Medizin studieren.«
    »Und wenn nicht?«
    »Dann werde ich als Lehrerin oder Erzieherin arbeiten, um Geld zu verdienen und zu sparen, damit ich das Studium in der Schweiz aus eigenen Mitteln finanzieren kann. Oder bis sich auch Frauen in Deutschland diese Möglichkeit bietet.«
    Gotthard schüttelte langsam den Kopf. Sein Sohn war kein herausragender Schüler. Trotzdem würde er an jeder Hochschule des Landes studieren dürfen, sofern er die Neigung verspüren sollte, was er jedoch bezweifelte. Seine Tochter hingegen hatte die Fähigkeiten und die Leidenschaft, die für das Studium und den Beruf des Arztes nötig waren. Und ausgerechnet ihr war der Zugang zur Universität verwehrt. Welch absurde Kapriole des Schicksals.
    »Heißt das, Sie sind dagegen?«
    Er sah sie an und fühlte, dass er seine Tochter nie zuvor so geliebt hatte wie gerade in diesem Augenblick. »Nein Victoria. Dein Vorschlag klingt vernünftig.«
    »Also darf ich das Lehrerinnenseminar besuchen?«
    »Ja.«
    »Und danach Medizin studieren?«
    »Das kann ich dir noch nicht versprechen. Das hängt ganz von der Entwicklung ab. Sofern Frauen in Deutschland zum Studium zugelassen sind, werde ich dir keine Steine in den Weg legen.«
    »Gut.« Sie nickte ernsthaft. »Danke, Vater.«
    Danke mir nicht zu früh,
dachte er. »Ich glaube, wir haben vorerst alles geklärt«, sagte er. »Du darfst dich entfernen.«
    Sie knickste und ließ ihn allein in der Bibliothek zurück.
    Gotthard stand auf und sah aus dem Fenster in den Garten hinaus. In dem alten Apfelbaum saß immer noch die Drossel und sang unverdrossen ihr Lied. Plötzlich ergriff ihn eiskalte Angst. War er etwa verrückt geworden? Er wusste doch von den Widerständen, die seine Tochter da draußen erwarten würden, ahnte bereits den Spott, den Hohn, den Hass, die Gier nach Sensationen und Scheitern, denen sie sich würde stellen müssen. Die Menschen waren boshaft. Sie kannten Victoria nicht, und sie liebten sie nicht. Schamlos würden sie über sein geliebtes Kind herfallen. War sie stark genug, diesen Stürmen zu trotzen? Andererseits verschaffte ihnen das Lehrerinnenseminar auch Zeit. Zeit, in der Victorias Leben eine andere Richtung einschlagen konnte – ein junger Mann, andere Interessen. Gottes Wege waren zuweilen unergründlich. Aber er kannte seine Tochter. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb sie meistens dabei. Und er hatte Angst, dass sie so lange vergeblich auf die Erfüllung ihres Traumes warten würde, bis es eines Tages zu spät wäre, noch ein anderes Leben zu beginnen.
    Gotthard kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm ein Schreiben zur Hand, das heute in der Post gewesen war. Die Professoren der Universität zu Leipzig baten um seine Teilnahme an einer Petition über die Zulassung von Frauen zum Studium. Eigentlich hatte er den Brief zerreißen wollen, doch das kam nun nicht mehr in Frage, das verstand sich von selbst. Aber tat er das Richtige?
    Er griff nach seinem Füllfederhalter und betrachtete ihn nachdenklich. Dabei fiel ihm ein, dass er noch nie über ärztliche Kolleginnen nachgedacht hatte. Warum eigentlich nicht? War es so abwegig, dass Frauen die gleichen Leistungen erbringen konnten wie Männer? Natürlich unterschied sich die Anatomie der Frau in wesentlichen

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