Haus des Glücks
bei deinem Bild zu bleiben. Du musst es selbst wollen und können. Warum also Medizin?«
»Ich möchte leidenden Menschen helfen. Außerdem interessiert mich die Heilkunde als Wissenschaft. Gebannt lausche ich den Tischgesprächen, wenn Sie Kollegen zu uns einladen, kein Wort entgeht mir. Und oft schleiche ich mich in die Bibliothek, um Worte nachzuschlagen, die ich nicht verstanden habe, oder Ihre Bücher über Anatomie zu studieren.«
Während er sie betrachtete, ihre schlanke, aufrechte Gestalt, gingen verschiedene Bilder durch seinen Kopf: Er sah Victoria aus der Bibliothek schleichen. Er sah die Lücke im Regal, wo eigentlich das lateinische Wörterbuch hätte stehen sollen, das jedoch einige Tage unauffindbar blieb. Er sah ihr Schulzeugnis, auf dem einzig die Note für Handarbeit aus dem Rahmen fiel. Er sah ihre großen, glänzenden Augen, wenn er bei Tisch mit einem Kollegen ein medizinisches Problem erörterte. Und er sah die zerknitterten Seiten von Fachzeitschriften, die er noch gar nicht in der Hand gehabt hatte.
Hätte er die Anzeichen dieser Katastrophe nicht schon viel eher erkennen müssen?
»Ich verstehe dein Interesse. Aber du verlangst Unmögliches. Selbst wenn unsere finanziellen Möglichkeiten ein Studium in der Schweiz zulassen würden, selbst wenn es in Deutschland eine Universität gäbe, die bereit wäre, dich aufzunehmen, könnte ich deinen Wunsch nicht erfüllen. Ich wäre ein Narr, es dir zu gestatten. Und ein verantwortungsloser Vater obendrein.«
»Natürlich«, sagte sie bitter. »Aber wir würden kein Wort darüber verlieren, wenn ich ein Knabe wäre.«
»Du bist aber nun mal ein Mädchen, Victoria.«
»Glauben Sie mir, das wird mir tagtäglich schmerzhaft bewusst. Und oft wünschte ich, es wäre anders.«
»Es ist aber nicht zu ändern. Du bist eine Frau. Das hat Gott so für dich entschieden. Und du wirst dich fügen müssen.«
»Es steht aber nirgendwo geschrieben, dass ich mich mit Unwahrheiten oder Ungerechtigkeiten abfinden muss. Wenn es so wäre, hätten Darwins Schriften verbrannt werden sollen, gleich nachdem er sie verfasst hatte.«
»Selbst wenn du recht hast, so heißt das nicht, dass ausgerechnet du auserwählt bist, als Einzelne diesen Kampf aufzunehmen.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich damit zulassen würde, dass du dich aus der Gesellschaft ausgrenzt.« Er hob eine Hand und zählte auf. »Deine Kommilitonen an der Universität sind Männer. Glaubst du, ihnen würde es gefallen, neben einer Frau im Hörsaal zu sitzen? Du müsstest das Studium ganz allein bewältigen, ohne jemanden zu haben, der mit dir lernt oder dir hilft, wenn du Fragen hast. Du wärest der Spielball der Professoren, die sich in zwei Lager spalten würden, von denen jedes für sich den Sieg erringen will: auf der einen Seite jene Hochschullehrer, die nicht glauben, dass eine Frau die Fähigkeit zum Arztberuf besitzt. Sie würden dir so viele Knüppel zwischen die Beine werfen, wie sie nur können. Auf der anderen Seite jene, die nur beweisen möchten, dass die Struktur des weiblichen Gehirns der des männlichen entspricht. Sie sind die Schlimmsten, denn sie sähen in dir nichts als ein willkommenes Versuchsobjekt, um ihre These zu verifizieren. Doch als ebenbürtige Kollegin würden auch sie dich nie akzeptieren. Und nicht zu vergessen deine Geschlechtsgenossinnen, die sich von dir in ihrer Ehre beschmutzt fühlen würden. Sie würden dich mit Dirnen auf eine Stufe stellen. Und das werde ich niemals zulassen.«
»Ihre Besorgnis verstehe ich, Vater«, sagte Victoria. »Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungerecht ist. Ich habe den Verstand, Medizin zu studieren, darf es aber nicht, weil ich ein Mädchen bin.«
»So ist es, und daran ist nichts zu ändern.«
»Aber es gibt doch bereits Ärztinnen. Frau Doktor Tiburtius hat zum Beispiel an der Universität von Zürich erfolgreich ihr medizinisches Staatsexamen abgelegt.«
Gotthard schüttelte den Kopf. »Die heilige Johanna hat auch mit dem Schwert gekämpft. Trotzdem sind nicht alle anderen Frauen und Mädchen mit ihr in den Krieg gezogen. Und von ihrem unrühmlichen Ende auf dem Scheiterhaufen wollen wir auch nicht reden.«
»Sie irren, denn das war nicht das Ende, Vater«, widersprach Victoria. »Am Ende wurde Johanna heiliggesprochen.«
Gotthard sah seine Tochter an, ein feines Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihm war klar, dass auch sie wusste, dass sie einen entscheidenden Sieg davongetragen hatte. Dabei hätte er
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