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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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nicht interessieren. Oder hast du etwa vor, an einer Höheren Töchterschule zu unterrichten?«
    »Nein. Eigentlich wollte ich nach Abschluss des Seminars in die Schweiz gehen und Medizin studieren – vorausgesetzt, dass es bis dahin in Deutschland immer noch nicht erlaubt sein wird.«
    Einen Augenblick war es still in der Bibliothek. Vor dem Fenster sang eine Drossel, die Standuhr in der Halle schlug siebenmal.
    Gotthard räusperte sich. »Wiederhole bitte, was du eben gesagt hast. Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden.« Eine vage Hoffnung. Doch die aufrechte Haltung seiner Tochter, ihr erhobener Kopf, das selbstbewusst vorgereckte Kinn, der gerade Blick gaben ihm bereits die Antwort, bevor ihre Stimme es tat.
    »Ich möchte Medizin studieren.«
    »Nein!« Klara ächzte, griff sich ans Herz und ließ sich in den Lesesessel sinken. »Diese Schmach! Das überlebe ich nicht.«
    »Ist es etwa eine Schande, lernen zu wollen? Die Gaben, die Gott mir gegeben hat …«
    Seine Frau sprang auf, auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken. »Lass Gott aus dem Spiel, Victoria! Der Herr selbst spricht in der Bibel über die Rolle, die der Frau zugewiesen ist. Sie soll an der Seite ihres Ehemannes stehen, ihm in Treue und Gehorsam dienen und Kinder schenken. Da steht nichts von Universitäten!« Ihre Stimme überschlug sich, ihr drohend erhobener Zeigefinger zitterte. »Sag etwas, Gotthard, bring deine Tochter zur Vernunft!«
    Doch er brachte keinen Ton über die Lippen. Wie erstarrt saß er in seinem Sessel. Und er hätte viel dafür gegeben, einfach aus dem Zimmer verschwinden zu können. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Er wusste beim besten Willen nicht, was er sagen oder tun sollte. Sein Vater hätte diese Situation mit dem Rohrstock oder dem Lineal entschieden, eines von beiden hatte stets griffbereit auf seinem Tisch gelegen. Obgleich solch eine Szene im Haus seiner Eltern undenkbar gewesen wäre – jeder hatte unverrückbar an dem Platz gestanden, der ihm mittels der Autorität seines Vaters zugewiesen worden war. Doch dies war eine andere Familie, andere Kinder, eine andere Epoche – es war Zeit, eigene Wege zu gehen, vielleicht sogar neue Pfade zu beschreiten. Auch ohne Rohrstock. »Klara«, sagte er und legte seiner Frau beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Gehe bitte hinaus. Du bist erregt, du solltest dich zuerst beruhigen. Ich werde das Gespräch mit Victoria allein fortsetzen.«
    Klaras Augen funkelten zornig, doch sie widersprach nicht. »Wenn du meinst«, sagte sie nur, presste die Lippen fest aufeinander und ging mit hocherhobenem Kopf hinaus.
    Gotthard wartete, bis sich die Tür hinter seiner Frau geschlossen hatte – leise, wie es sich gehörte, was gewiss ihrer ausgezeichneten Erziehung geschuldet war.
    »Was du da eben gesagt hast, ist keine Kleinigkeit, Victoria«, sagte er ernst. »Du hast deine Mutter und mich damit sehr erschreckt.«
    Sie nickte. »Dessen bin ich mir bewusst. Aber ich bin davon ausgegangen, dass Sie die Wahrheit wissen wollen, Vater.«
    »Deine Ehrlichkeit ist auch das Einzige, was in diesem Augenblick für dich spricht.« Er rieb sich die Stirn. »Hilf mir, Victoria. Erkläre dich mir. Wie bist du auf diesen abwegigen Gedanken gekommen? Medizin studieren! Du, als Mädchen, noch dazu in der Schweiz!«
    »Ich habe gelesen, dass es möglich ist. Meine Schulnoten sind ausgezeichnet, ich bin die Beste meines Jahrgangs. Um an der Universität in Zürich zugelassen zu werden, muss ich das Lehrerinnenseminar besuchen. Das erkennen sie dort als Abitur an.«
    »Wenn das alles ist, wieso wählst du kein anderes exotisches Ziel? Es ist auch denkbar, den Amazonas zu bereisen oder mit einem Fesselballon in die Luft zu steigen. Weshalb ausgerechnet Medizin?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Wieso will ein Vogel fliegen? Vielleicht liegt es mir im Blut. Sie selbst haben doch auch diesen Weg gewählt, Vater.«
    Nachdenklich sah er sie an.
War dem so? Was wäre aus ihm geworden, wenn nicht Gustav Bülau für ihn entschieden hätte? Ein Kapitän wie sein Onkel? Oder ein Kaufmann?
Er konnte es sich nicht vorstellen. Und ihm kam der Gedanke, dass sein Vater lediglich mit weiser Hand hervorgebracht hatte, was im Innersten bereits früh sein eigener Wunsch gewesen war. »Du magst recht haben«, sagte er. »Doch lasse ich dieses Argument für dich nicht gelten. Dort draußen reicht es nicht aus, dass du ein Vogel bist und deine Vorfahren fliegen konnten – um

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