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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Winkler
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der Rückweg sie jeden Nachmittag »zufällig« an der Praxis ihres Vaters vorbei.
    »Fein, Franziska. Gibt es einen besonderen Grund für diese Ehre?«
    »Georg fährt meine Mutter heute nach Blankenese«, erwiderte die Freundin. »Außerdem muss ich mit dir sprechen. Lass uns losgehen, bevor es wieder zu regnen anfängt.«
    Den ganzen Tag über hatte es geregnet. Die Tropfen waren so laut gegen die Fensterscheiben des Klassenzimmers geschlagen, dass die dünne Stimme der Lehrerin für Ernährungs- und Gesundheitslehre kaum zu verstehen gewesen war.
    In der Zwischenzeit hatte es aufgehört zu regnen, und die Luft roch, als wäre sie frisch gewaschen. Dort, wo die dicke, graue Wolkendecke aufriss, brachen die Sonnenstrahlen wie Fächer aus Licht hindurch und überzogen die herbstlichen Linden mit Gold. Sie pressten ihre Bücher an sich, rafften die Röcke an der Seite zusammen und stiegen die Treppe zur Straße hinunter. Schweigend gingen sie auf dem Bürgersteig nebeneinanderher.
    »Du wolltest mir etwas erzählen«, sagte Victoria nach einer Weile und wich einem Jungen aus, der schwer an einem großen Korb voll duftender Äpfeln trug.
    »Ja«, Franziskas Antwort klang gedehnt. »Ich weiß aber nicht …«
    Victoria musterte ihre Freundin überrascht. Doch die wich ihrem Blick aus und hakte sich bei ihr unter.
    »Spann mich doch nicht auf die Folter!«
    »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich es dir sagen soll.«
    »Ist es so schlimm?«
    Franziska presste die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern. »Je nachdem, von welcher Seite man die Angelegenheit betrachtet.«
    Victoria stieß ihr freundschaftlich den Ellbogen in die Rippen. »Du weißt doch, dass ich ein tapferes Mädchen bin«, scherzte sie, doch seltsamerweise erwiderte ihre Freundin das Lächeln nicht. Stattdessen seufzte sie. »Also raus mit der Sprache.«
    Franziska holte tief Luft. »Ich komme am Montag nicht ins Seminar.«
    »Aha, und warum nicht? Willst du etwa gleich am Anfang des Schuljahres verreisen? Das wird Fräulein Rothehüser gar nicht gefallen. Du weißt doch, wie pedantisch sie in diesen Dingen ist. Sie wird dich ganz schön hart herannehmen, wenn du wieder da bist.«
    »Ich werde aber nicht wiederkommen.«
    »Nicht wiederkommen? Was soll das heißen?«
    »Ich habe mich abgemeldet, weil ich bald heiraten werde.«
    Wie vom Donner gerührt blieb Victoria stehen.
Franziska wollte heiraten?
Sie musste sie falsch verstanden haben. Das konnte doch nicht sein. Eine verheiratete Frau durfte das Lehrerinnendiplom nicht ablegen. Und das Diplom war unbedingt erforderlich, um an der Universität in Zürich zugelassen zu werden. Franziska hatte vor zu studieren, genau wie sie. Da war eine Ehe undenkbar. Wahrscheinlich hatte sie sich verhört. Es war Freitagnachmittag, die Geschäfte würden bald schließen, und entsprechend viel Volk war unterwegs. Der Lärm war ohrenbetäubend. Köchinnen und Dienstmädchen ließen es nicht dabei bewenden, ihre Einkäufe in die Häuser ihrer Herrschaften zu schleppen, sondern unterhielten sich lauthals quer über die Straße hinweg miteinander. Ein Zeitungsjunge rief, nein, er schrie auf der anderen Straßenseite die Schlagzeilen des
Hamburger Abendblatts
aus. Dazu ratterten die Wagenräder heute besonders laut auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Wie sollte sie da richtig verstehen können, was Franziska sagte? Auch jetzt hörte sie nichts außer dem Klappern, Rattern und Schreien, obwohl die Freundin doch direkt vor ihr stand und ihre Lippen sich bewegten. Der Lärm übertönte alle anderen Geräusche. Sie wollte sich die Ohren zuhalten und stellte fest, dass es zu spät war. Das Sausen und Brummen war bereits in ihrem Kopf und breitete sich dort in rasender Geschwindigkeit aus. Bald würde es ihren Schädel sprengen. Vielleicht war das sogar schon geschehen, denn sie fühlte sich ungewohnt leicht. Gewiss stieg sie gleich in die Luft wie ein Fesselballon. Hatte nicht Vater neulich von einem erzählt? Jetzt war sie der erste lebende Heißluftballon der Welt! Er würde stolz auf sie sein. Doch etwas hielt sie noch zurück, hinderte sie am Fliegen: Ihre Füße waren schwer wie Blei. Vielleicht sollte sie jemanden bitten, ihr zu helfen. Es ratterte immer lauter und lauter, ein Mann brüllte, ein Pferd wieherte. Es klang verzweifelt, wie ein Schrei. Manche Kutscher misshandelten ihre Tiere, dem sollte man einen Riegel vorschieben, so ging das nicht. Sobald sie ihren Flug hinter sich hatte, würde sie einem der

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