Haus des Glücks
Schwester an seiner Seite könnte nicht einmal ihr Vater seine Praxis führen. Aber könnte sie sich selbst damit begnügen, nicht zu heilen, sondern
nur
zu pflegen?
Erneut fielen ihr Schwester Josephines Worte ein.
»Wenn ich das Essen bringe oder die Kissen aufschüttele und ich einem alten Mann, der vor Schmerzen kaum noch atmen kann, ein Lächeln entlocke, ist das doch viel, oder?«
Ja, das war viel. Und dass die Schwester mit dieser Ansicht recht hatte, hatte sie gerade am eigenen Leib erfahren. Nicht Doktor Baumgarten mit seinem Wissen und seiner Freundlichkeit hatte sie aufgerichtet und getröstet. Es war Schwester Josephine gewesen. Und möglicherweise war das auch der richtige Weg für sie.
Victoria sah zum Fenster. Nach einer Woche Dauerregen schien dort draußen endlich die Sonne und ließ die mattbraunen Vorhänge wie goldene Schleier leuchten. Sie wertete es als ein gutes Zeichen, und zum ersten Mal seit ihrem Unfall war sie erleichtert, fast froh. Sie war nicht unter die Räder des Kohlefuhrwerks gekommen. Sie lebte und würde gesund werden. Und sie sah eine Zukunft vor sich, ein Ziel. Sie hatte wieder Hoffnung.
»Manchmal kann ich gar nicht fassen, wie gut der Herrgott es mit mir gemeint hat.«
Nicht mehr hadern, maulen und klagen. An diesen Worten sollte sie sich ein Beispiel nehmen.
»Danke, Schwester Josephine«, flüsterte sie und hatte Tränen in die Augen.
»Nein, nein, nein!« Klara Bülau sprang aus ihrem Sessel auf. »Das lasse ich nicht zu! Niemals! Sag du doch etwas, Gotthard! Sprich mit deiner Tochter, rede ihr diesen Wahnsinn aus! Auf mich hört sie nicht!«
Victoria presste die Lippen fest aufeinander und versuchte, sich von dem Gefühlsausbruch ihrer Mutter nicht erschüttern zu lassen. Als sie die Eltern zum Gespräch über ihre Zukunftspläne in den Salon gebeten hatte, hatte sie zwar mit Widerstand gerechnet, aber nicht mit einem derartigen Widerwillen und Entsetzen. Sie hatte ihre Mutter noch nie so aufgebracht gesehen, nicht einmal, als sie sich vor eineinhalb Jahren entschlossen hatte, das Lehrerinnenseminar zu besuchen.
»Hast du dir das auch reiflich überlegt?«, fragte Vater. Auch er war bleich. »Ich dachte, du willst dein Lehrerinnendiplom ablegen?«
»Das hatte ich vor. Aber es war niemals mein Wunsch, Lehrerin zu werden. Ich dachte, ich bräuchte das Diplom, um Medizin zu studieren. Nach der gescheiterten Leipziger Petition jedoch ist mir der Zugang zu den Hochschulen in Deutschland auf unabsehbare Zeit verwehrt.«
»Und was ist mit der Schweiz? Wolltest du nicht in diesem Falle als Lehrerin arbeiten, um dir das Studium in Zürich finanzieren zu können?«
Victoria nickte. »Ja, Vater. Allerdings stützte sich dieser Plan auf die Annahme, dass ich nicht allein in die Schweiz gehen würde, sondern mir mit Franziska gewisse Kosten, wie Unterbringung und Verpflegung, teilen könnte. Sie hat ihre Pläne geändert, und ich …«
»Franziska ist wieder zur Vernunft gekommen«, warf ihre Mutter ein. »Nimm dir daran ein Beispiel!«
Victoria faltete die Hände und versuchte ruhig zu bleiben. Warum konnten ihre Eltern, allen voran ihre Mutter, nicht verstehen oder doch wenigstens zuhören? »Ich fürchte, dass es Jahrzehnte dauert, von dem Lehrerinnengehalt genug zusammenzusparen, um nach Zürich gehen zu können. Außerdem möchte ich Ihnen nicht unnötig zur Last fallen. Deshalb habe ich mir eine Alternative überlegt. Ich habe mich entschlossen, eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Dafür brauche ich kein Lehrerinnendiplom. Insofern wäre es reine Zeitverschwendung, noch länger am Seminar zu bleiben.«
»Da hörst du es!«, rief ihre Mutter aus und rang die Hände. »Das Kind ist von Sinnen! Wir sollten Doktor Baumgarten konsultieren. Vielleicht leidet sie noch unter den Auswirkungen ihrer Gehirnerschütterung.«
Victoria schüttelte den Kopf. Sie war mittlerweile seit vier Wochen zu Hause. Sie hatte sich gut erholt, keine Kopfschmerzen mehr, nicht einmal beim Lesen lateinischer Bücher. Sie war bei bester geistiger Gesundheit. Offenbar fiel es ihren Eltern schwer, das zu akzeptieren. »Mir geht es gut, Mutter. Ich fühle mich ausgezeichnet. Der Gedanke, Krankenschwester zu werden, entspringt weder einer Laune noch einer körperlichen Störung, sondern ist das Ergebnis langer und reiflicher Überlegung.«
Die Hände des Vaters krampften sich um die Armlehnen seines Sessels, trotzdem blieb er nach außen hin ruhig. »Und wie stellst du dir das
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